Sturm ueber roten Wassern
ist schon ein gewaltiger Unterschied, ob man sich in seiner Kammer theoretisch mit dem Abseilen befasst, oder ob man tatsächlich von einer Klippe springt mit nur zwei Seillängen zwischen sich und Aza Guilla.«
»Seile und Klippen sind nicht das Problem«, meinte Jean. »Worauf wir hier besser achten sollten, sind deine fleischfressenden Tauben.«
»Idiot! Beug dich runter und beiß dir in den Arsch!«
»Ich meine es ernst. Ich habe schreckliche Angst. Ich halte jedenfalls meine Augen offen, weil ich nicht will, dass das Letzte, was wir in diesem Leben fühlen, das emsige Hacken von kleinen Schnäbeln …«
»Jean, deine Sicherungsleine muss sich um deinen Hals gewickelt haben und dir die Blutzufuhr zum Gehirn abschnüren. Warte, ich schneide dich gleich los …«
Ein paar Minuten lang traktierten sie einander mit gut mutigen Fußtritten und Knüffen; Locke wirbelte an seinem luftigen Sitz hin und her, um durch seine Wendigkeit Jeans viel größere Körperkraft und Masse auszugleichen.
Muskeln und Fett schienen jedoch zu gewinnen, deshalb schlug Locke aus purem Selbsterhaltungstrieb vor, sie sollten endlich anfangen, den Abstieg zu üben.
»Klar«, pflichtete Jean ihm bei. »Lass uns ganz gemütlich fünf bis sechs Fuß runtergehen und auf mein Zeichen stehen bleiben, einverstanden?«
Jeder packte sein straff gespanntes Hauptseil und lockerte ein wenig die Schlingen im Abseilhaken. Langsam rutschten sie gute zwei Yards nach unten, bis Jean rief: »Halt!«
»Nicht schlecht«, meinte Locke. »Wir haben’s doch nicht ganz verlernt, oder? Bald haben wir den Bogen wieder raus.«
»Na ja, nach meinem kleinen Erholungsurlaub im Haus der Offenbarung war ich nie wieder scharf aufs Klettern. Es war immer mehr dein Ding … du und die Sanzas, ihr konntet es von Anfang an viel besser als ich. Ach ja … Sabetha war auch unglaublich geschickt.«
»Richtig«, gab Locke wehmütig zu. »Sabetha … sie war total verrückt … verrückt und wunderschön. Ich liebte es, ihr beim Klettern zuzusehen. Von Seilen hielt sie nichts. Sie … zog ihre Schuhe aus, löste das Haar und verzichtete mitunter sogar auf Handschuhe.
Sie trug nur ihre Kniehose und ihre Bluse … und ich schaute und schaute …«
»Wie hypnotisiert«, vollendete Jean den Satz. »Mit heruntergeklappter Kinnlade und glotzenden Augen. Ich war auch dabei, Locke, und habe gesehen, was mit dir los war.«
»Hey! Was ich für Sabetha empfand, muss doch ein Blinder gesehen haben. Oh Götter!« Locke starrte Jean an und lachte nervös. »Oh Götter, jetzt fang doch tatsächlich ich von ihr an. Ich kann es nicht fassen.« Seine Miene nahm einen listigen Ausdruck an. »Ist zwischen uns beiden alles wieder in Ordnung, Jean? Ich meine, haben wir uns vertragen?«
»Zur Hölle, wir hängen hier Seite an Seite über einem achtzig Fuß tiefen Abgrund, oder etwa nicht? So was mach ich nicht mit Leuten, mit denen ich mich verkracht habe.«
»Das höre ich gern.«
»Und was unseren Streit betrifft, doch, ja, ich würde sagen …«
»Meine Herren! Hallo da unten!«
Der Mann sprach Verrari mit einem derben, ländlichen Akzent. Verdutzt blickten Locke und Jean hoch und sahen vor dem aufgewühlten Himmel die Silhouette eines Mannes, der die Arme über der Brust verschränkt hatte. Der Kerl trug einen abgewetzten Mantel mit übergeschlagener Kapuze.
»Äh … hallo da oben!«, rief Locke zurück.
»Schöner Tag, um ein bisschen Sport zu treiben, nicht wahr?«
»Genau das fanden wir auch!«, brüllte Jean.
»Mit Verlaub, werte Herren, heute ist wirklich ein ganz vortrefflicher Tag. Und was für herrliche Röcke und Westen Sie hier oben hingelegt haben. Sie gefallen mir ganz außerordentlich, bloß stecken keine Geldbörsen in den Taschen.«
»Natürlich nicht, wir sind doch nicht bl … Heda, was fällt Ihnen ein! Seien Sie bitte so freundlich und fassen Sie unser Eigentum nicht an«, donnerte Jean. Wie auf ein unausgesprochenes Zeichen hin streckten er und Locke die Arme aus, um sich gegen die Felswand zu stemmen und sich schleunigst Halt für die Hände und Füße zu suchen.
»Warum nicht? Es ist so richtig feines Zeug. Ich fühle mich unwiderstehlich zu diesen Sachen hingezogen.«
»Warten Sie da oben auf uns«, entgegnete Locke, während er sich rüstete, die Wand hinaufzuklettern. »In ein paar Minuten sind wir bei Ihnen, und dann reden wir wie zivilisierte Leute über die Angelegenheit.«
»Ich fühle mich außerdem geneigt, euch zwei gar nicht mehr raufkommen
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