Sturm ueber roten Wassern
einer Wende nach backbord zwang.
Sie würden in das Auge des Windes gelangen und seine gesamte Wucht zu spüren bekommen; wenn sie an diesem Punkt einen Fehler machten, konnten sie »im Wind liegen bleiben«, das Schiff wäre bekalmt, und jede Fahrt wäre aus dem Ruder sowie aus den Segeln genommen. Minutenlang wären sie hilflos, und es konnte noch schlimmer kommen – bei schwerem Seegang war ein Kentern nicht ausgeschlossen.
»Deckshände! Fiert die Stagsegelschoten!« Jean fuchtelte mit den Armen durch die Luft und brüllte den imaginären Matrosen seine Befehle zu. »Schneller, schneller, ihr faulen Hunde!«
»Meister de Ferra«, rief Locke, »dieser Seemann drückt sich vor seiner Pflicht!«
»Später bring ich dich um, du kohlköpfiger Schweineficker! Greif dein Tau und warte auf mein Kommando!«
»Meister Caldris!« Locke wirbelte herum und wandte sich an den Segelmeister, der gleichmütig verdünnten Wein aus einem Schlauch schlürfte. »Ruder hart über!«
»Aye, Käpt’n.« Er rülpste und legte den Schlauch vor seine Füße auf das Deck. »Hart über!«
»Großtopp rund!«, schrie Locke.
»Holt dicht Vorschoten! Brasst an Großtopp!« Jean blies ein weiteres Signal auf der Bootsmannspfeife. »Rahen anbrassen! Klar zum Steuerbordhalsen!«
In Lockes Fantasie krängte der Schiffsbug nun am Zentrum des Windes vorbei; der Backbordbug legte sich nach Lee, und der Wind würde querab von steuerbord einkommen. Die Rahen würden rasch durch die Brassen in die gewünschte Stellung gebracht, um die Brise bestmöglich zu nutzen, und Calris würde hektisch sein Steuerrad zurückkurbeln. Die Roter Kurier müsste ihren neuen Kurs stabilisieren; wenn sie zu weit ach backbord abdriftete, konnte sie in die entgegengesetzte Richtung fahren, und die Segel wären nicht ordentlich gebrasst. In diesem Fall hatte man Glück, wenn man sich durch ein solches Fiasko nur blamierte.
»Ruder hart über!«, schrie er noch einmal. »Aye, aye«, brüllte Caldris. »Habe den Käpt’n schon beim ersten Mal gehört!«
»Geit auf die Fock!« Wieder ließ Jean die Bootsmannspfeife zwitschern. »Wird’s bald!
Bemannt die Fock-Geitaue, ihr verdammten Bastarde!«
»Sie liegt jetzt auf dem neuen Bug, Käpt’n«, meldete Caldris. »Zu meiner Überraschung ist es nicht zu einer Patenthalse gekommen, und wir alle bleiben noch ein Weilchen am Leben.«
»Aye, aber das haben wir bestimmt nicht diesem nichtsnutzigen Hundsfott von Matrosen zu verdanken!« Locke führte eine Pantomime auf, als schnappe er sich einen Mann und risse ihn zu sich auf das Deck. »Was ist dein Problem, du bei allen Göttern verfluchter, arbeitsscheuer Orlop-Wurm?«
»Der Erste Maat de Ferra schlägt mich dauernd ganz fürchterlich mit dem Tampen!«, winselte Jean mit hoher, quäkender Stimme. »Er ist ein grausamer Schuft, eine Bestie.
Ich hätte lieber Priester werden sollen, als einen Fuß auf dieses Schiff zu setzen!«
»Selbstverständlich bestraft er dich! Dafür bezahle ich ihn doch.« Locke tat so, als hielte er ein Messer in der Hand. »Für deine Verbrechen, imaginärer Matrose, die da sind Drückebergerei und Insubordination, werde ich dich eigenhändig töten, es sei denn, du beantwortest mir zwei Fragen: Erstens -wo zur Hölle ist meine reale Mannschaft?
Und zweitens, warum im Namen aller Götter muss ich beim Üben diese verdammte Uniform tragen?«
Er unterbrach seine Aufführung, als plötzlich hinter ihm jemand applaudierte. Als er sich erschrocken umdrehte, sah er Merrain, die neben der Seitenpforte an der Schiffsreling stand; sie musste völlig geräuschlos die Rampe hochgekommen sein.
»Fantastisch!« Sie lächelte die drei Männer an Deck an, bückte sich und nahm das Kätzchen auf den Arm, das sich sofort auf Merrains schöne Lederstiefel gestürzt hatte, um sie mit den Krallen zu bearbeiten. »Sehr überzeugend. Aber Ihr armer imaginärer Matrose kennt die Antworten nicht, die Sie verlangen.«
»Sind Sie hier, um uns denjenigen zu nennen, der uns aufklären könnte?«
»Der Archont hat angeordnet«, erwiderte sie, »dass Sie morgen eines seiner privaten Boote segeln. Er will sich selbst einen Eindruck von Ihrer Leistung machen, ehe er Sie endgültig auf See schickt. Er und ich werden Ihre Passagiere sein. Und wenn Sie es schaffen, uns nicht zu ertränken, zeigt er Ihnen, wo sich Ihre Besatzung aufhält. Und Sie erfahren den Grund, weshalb Sie in dieser Uniform üben mussten.«
Kapitel Sieben
Leinen los
1
Ein einzelner
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