Sturm ueber roten Wassern
dieses Briefes interessierte, würde für die gebotene Schnelligkeit und Sicherheit der Beförderung garantieren. Nichtsdestoweniger nahm Locke sich vor, später durch einen von Stragos’ Agenten eine Kopie des Schreibens abliefern zu lassen. In diesem Fall wollte er nicht das geringste Risiko eingehen.
»Adieu, ihr schönen Betten«, seufzte Jean, als er die beiden Koffer mit ihren restlichen Habseligkeiten zu den wartenden Kutschen schleppte. Sie hatten lediglich ihre Einbrecherausrüstung behalten – Dietriche, Waffen, alchemische Färbemittel, Sachen zum Verkleiden – dazu ein paar hundert Solari in Münzen und eine Garderobe, die sie auf See tragen konnten, wie Tuniken und Kniehosen. »Adieu, Jerome de Ferras Geld.« »Adieu, Durenna und Corvaleur«, legte Locke mit verkniffenem Lächeln nach. »Adieu, Paranoia, denn ab jetzt müssen wir nicht dauernd über die Schulter schauen, egal, wohin wir gehen. Denn in Wahrheit betreten wir einen Käfig. Aber nur für wenige Tage.«
»Nein«, widersprach Jean gedankenverloren, während er seinen kräftigen Leib durch die Kutschentür wuchtete, die ein Leibwächter für ihn aufhielt. »Nein, so schnell verlassen wir den Käfig nicht. Im Gegenteil, wir nehmen ihn überallhin mit.«
12
Ihr Training mit Caldris, das sie am selben Nachmittag wiederaufnahmen, wurde immer anstrengender. Der Segelmeister scheuchte sie von einem Ende des Schiffs zum anderen und drillte sie in der Bedienung von allem Möglichen, vom Ankerspill bis zum Kochherd. Mit der Hilfe einiger Allsehender Augen laschten sie das Beiboot los, setzten es aus und holten es wieder ein. Sie zogen die Grätings von den Frachtluken des Hauptdecks und übten, mittels verschiedener Anordnungen von Taljen Fässer in die Last hinunterzubringen und wieder hochzuziehen. Egal, wohin sie gingen, überall ließ Caldris sie Knoten binden und obskure Vorrichtungen benennen.
Als Wohnquartier erhielten Locke und Jean die Achterkajüte der Roter Kurier. Auf See würde Jeans Logis von Lockes Bereich durch eine dünne Wand aus verstärktem Segeltuch getrennt sein – und Caldris’ ebenfalls winzige »Kabine« lag dem Durchgang genau gegenüber –, doch vorerst richteten sie den Raum wie eine halbwegs gemütliche Junggesellenunterkunft ein. Die Notwendigkeit, sich so abzuschirmen, machte beiden den extremen Ernst ihrer Situation bewusst, und sie verdoppelten ihre Bemühungen; sie lernten verwirrende neue Dinge mit einer Geschwindigkeit wie damals, als sie noch unter der Fuchtel ihres gestrengen Mentors, Vater Chains, gelebt hatten. Fast jede Nacht schlief Locke mit seiner Kopie des Handbuchs für den klugen Seemann als Kopfkissen ein.
Vormittags segelten sie mit der Jolle westlich der Stadt innerhalb der gläsernen Riffe, und das mit einem wachsenden Selbstvertrauen, das in keinem Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Können stand. Nachmittags benannte Caldris Gegenstände und Örtlichkeiten auf dem Schiffsdeck und verlangte von ihnen, dass sie an jeden Platz rannten, den er meinte.
»Kompasshaus!«, brüllte der Segelmeister, und Locke und Jean hetzten gemeinsam zu dem kleinen hölzernen Gehäuse gleich neben dem Schiffsruder, das einen Kompass und mehrere andere Navigationshilfen enthielt. Kaum waren sie angekommen, schrie Caldris:
»Heckreling!« Das war einfach – er meinte die Reling am hintersten Ende des Schiffs.
Als Nächstes donnerte Caldris: »Abortleinen!« Locke und Jean flitzten an dem verstörten Kätzchen vorbei, das auf dem von der Sonne erwärmten Achterdeck herumlungerte und sich die Pfoten leckte. Im Rennen schnitten sie Grimassen, denn an den Abortleinen klammerten sie sich fest, wenn sie auf den Bugspriet hinauskletterten, um sich ins Meer zu erleichtern. Bequemere Methoden, um zu scheißen, waren reichen Passagieren auf großen Schiffen vorbehalten.
»Besanmast!«, gellte Caldris, und Locke und Jean blieben schwer atmend stehen.
»Dieses Schiff hat keinen verdammten Besanmast!«, rief Locke. »Nur einen Fockmast und einen Großmast!«
»Schlaues Kerlchen! Sie haben meinen Trick durchschaut, Meister Kosta. Jetzt zieht eure Scheißuniformen an, und spielt ein paar Stunden lang den Pfau.«
Tagelang arbeiteten die drei Männer gemeinsam daran, eine Art Geheimsprache, bestehend aus Handzeichen und Worten, auszutüfteln, mit denen sie sich auf See untereinander verständigen konnten. Locke und Jean, die seit ihrer Kindheit auf diese Weise miteinander kommunizierten, passten ihre ganz
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