Sturm ueber roten Wassern
Wachposten tigerte am Anleger der einsamen Insel auf und ab. Das sanfte, gelbe Licht seiner Laterne spiegelte sich in winzigen Kräuselwellen auf dem schwarzen Wasser, als Locke ihm aus seiner kleinen Barkasse ein Seil zuwarf. Anstatt den Kahn zu vertäuen, hielt der Wachposten die Laterne über Locke, Jean und Caldris und schnauzte: »Es ist strengstens verboten, hier … oh, Götter. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«
Locke grinste; die Autorität, welche die Uniform eines Kapitäns der Verrari-Marine ihm verlieh, umhüllte ihn wie eine wärmende Decke. Er griff nach einem Stützpfahl und hievte sich auf den Anleger, während der Wachposten mit der Laterne in der Hand linkisch salutierte.
»Mögen die Götter den Archont von Tal Verrar beschützen«, sagte Locke.
»Weitermachen. Es ist deine Pflicht, fremde Boote in der Nacht anzurufen, Soldat.«
Während der Soldat die Barkasse an einem der Pfähle festmachte, streckte Locke die Hand aus und half Jean, auf den Anleger zu klettern. Mit einer in dem mittlerweile vertrauten Kostüm selbstsicheren Bewegung trat Locke hinter den Hafenwächter, entfaltete eine lederne Presskapuze, die er aus dem Uniformrock zog, stülpte sie dem Soldaten über den Kopf und zurrte die Zugkordeln fest.
»Die Götter wissen, dass dieses Boot das seltsamste seiner Art ist, das du in deinem Leben je zu Gesicht bekommen wirst.«
Jean hielt den Wachposten an den Armen fest, während die Drogen, mit denen die Innenseite der Kapuze imprägniert war, ihre Wirkung entfalteten. Der Soldat war bei Weitem nicht so robust wie der letzte Mann, den Locke mit einer solchen Kapuze hatte betäuben wollen, und bereits nach kurzer, halbherziger Gegenwehr sackte er in sich zusammen. Als Locke und Jean ihn an einem der letzten Pfeiler, die den Anleger stützten, fesselten und ihm noch einen Knebel aus Stofffetzen in den Mund stopften, schlief er tief und fest.
Caldris hievte sich aus dem Boot, hob die Laterne des Wachpostens auf und fing an, an seiner Stelle auf und ab zu spazieren.
Locke blickte zu dem Steinturm empor, der ihr Ziel war; der wuchtige Bau ragte sieben Stockwerke in die Höhe, und die Zinnen wurden von alchemischen Navigationsbaken, die den Schiffen als Warnsignale dienten, in oranges Licht getaucht. Unter normalen Umständen hätten sich dort oben auch Wachposten befunden, die das Wasser und den Pier beobachteten, doch Stragos hatte bereits seine Hände im Spiel. Nichts regte sich auf der Turmspitze.
»Los, komm«, flüsterte Locke Jean zu. »Lass uns reingehen und eine Besatzung rekrutieren.«
2
»Dieser Ort heißt Amwind-Felsen«, erklärte Stragos. Er deutete auf den Steinturm, der aus der kleinen Insel herausragte, vielleicht einen Pfeilschuss weit von der zischenden weißen Brandungslinie entfernt, die Tal Verrars äußersten Kranz aus gläsernen Riffen markierte.
Sie lagen in siebzig Fuß tiefem Wasser vor Anker, eine gute Meile westlich von der Silber-Marina. Hinter ihnen ging gerade die warme Morgensonne über der Stadt auf und beleuchtete die aufsteigenden Nebelschwaden.
Wie Merrain angekündigt hatte, war Stragos im Morgengrauen in einer dreißig Fuß langen Barkasse aus glänzendem schwarzem Holz eingetroffen; das Heck war mit bequemen Ledersitzen ausgestattet und jede Oberfläche mit goldenen Schnörkeln verziert. Locke und Jean bedienten unter Caldris minimaler Aufsicht die Segel, während Merrain im Bug saß. Locke hatte sich gefragt, ob dies wohl der einzige Platz in einem Boot war, in dem sie sich wohlfühlte.
Sie waren nach Norden gesegelt, hatten die Silber-Marina umrundet und dann einen westlichen Kurs eingeschlagen, den letzten blauen Schatten des Nachthimmels an der Kimm folgend.
Eine Weile flogen sie über die Wellenkämme, bis Merrain einen Pfiff ausstieß und nach vorn deutete. In der Ferne tauchte eine hohe, dunkle Struktur aus dem Wasser auf. An der Spitze glühten orangefarbene Lichter.
Kurz darauf ließen sie den Anker fallen, um den einsamen Turm in Muße zu betrachten. Stragos hatte Locke und Jean nicht für ihre Handhabung der Barkasse gelobt, doch er äußerte auch keine Kritik.
»Der Amwind-Felsen«, rief Jean. »Ich habe davon gehört. Eine Art Festung.«
»Ein Gefängnis, Meister de Ferra.«
»Werden wir heute Vormittag dort landen?«
»Nein«, erwiderte Stragos. »Aber Sie werden schon bald hierher zurückkehren und die Insel anlaufen. Ich wollte nur, dass Sie den Amwind-Felsen vorher sehen … und ich möchte Ihnen eine
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