Sturm ueber roten Wassern
er ein Wurfmesser, in der linken – wie es die Regel vorschrieb – eine volle Weinflasche.
Der Seemann, der ihn angefeuert hatte, stieß einen lauten Rülpser aus und fing an, mit den Füßen zu stampfen. Sofort griffen die Männer, die Jabril umringten, den Rhythmus auf, klatschten in die Hände und skandierten, anfangs langsam, dann immer schneller werdend: »Verschütte keinen Tropfen! Verschütte keinen Tropfen!
Verschütte keinen Tropfen! Verschütte keinen Tropfen! Verschütte keinen Tropfen!«
Jabril verbeugte sich vor seinem Publikum, richtete sich wieder auf und schleuderte das Messer. Es traf den Gehrock in der Mitte, und die darauf folgenden Jubelrufe verwandelten sich schnell in ein wüstes Geheul. Jabril hatte etwas Wein aus der Flasche verschüttet.
»Verdammt!«, schrie er.
»Weinverschwender!«, brüllte einer der Männer um Jabril mit der Leidenschaft eines Priesters, der jemanden der schlimmsten Blasphemie anklagt. »Zahl den Preis, und führe den Wein seiner wahren Bestimmung zu!«
»Hey, wenigstens habe ich den Rock getroffen«, verteidigte sich Jabril grinsend. »Du hättest mit deinem Wurf beinahe einen Kameraden auf dem Achterdeck getötet!«
»Zahl den Preis! Zahl den Preis! Zahl den Preis!«, forderte die Meute in einem lautstarken Singsang.
Jabril setzte die Flasche an die Lippen, kippte sie hoch und soff sie in einem Zug leer.
Lautstärke und Tempo des Gesangs steigerten sich in dem Maße, in welchem der Weinpegel in der Flasche sank. Jabrils Hals- und Kiefermuskeln spannten sich mächtig an, und als er den letzten Rest des dunkelroten Zeugs gurgelnd schluckte, stieß er triumphierend mit der freien Hand in die Luft.
Die Matrosen klatschten Beifall. Jabril nahm die Flasche vom Mund, senkte den Kopf und prustete einen Mundvoll Wein über den Mann, der ihm am nächsten stand. »Oh nein!«, krähte er. »Ich habe einen Tropfen verschüttet! Ah ha ha ha ha!«
»Jetzt bin ich an der Reihe«, rief der durchnässte Seemann. »Ich werde absichtlich patzen und zahl’s dir heim, Maat!«
Locke und Caldris sahen von der Heckreling auf dem Achterdeck aus dem Treiben zu.
Caldris gönnte sich eine der seltenen Pausen, in denen er jemand anders ans Ruder ließ. Zurzeit ließ er sich von Jean ablösen. Sie segelten ruhig durch die schwülwarme Abenddämmerung, und alles lief so glatt, dass Caldris es wagte, sich ein halbes Dutzend Schritte weit vom Steuerrad zu entfernen.
»Die Mannschaft amüsiert sich ja prächtig. Das ist gut so«, meinte Locke.
»Die armen Kerle waren so lange eingesperrt, dass sie es verdient haben, sich ab und zu mal austoben zu können.« Caldris schmauchte eine Pfeife aus hellblauer Keramik, das schönste und zierlichste Ding, das Locke je in seinen Händen gesehen hatte, und der matte Schein der Glut spiegelte sich auf seinem Gesicht.
Auf Caldris’ Vorschlag hin hatte Locke große Mengen von Wein und Bier (die Roter Kurier war mit beidem geradezu verschwenderisch versorgt, und die Vorräte hätten für eine zweimal so große Mannschaft gereicht) aus der Spirituslast an Deck hieven lassen, und jeder Mann durfte sich großzügig bedienen. Die Matrosen und Wachgänger, die nüchtern bleiben mussten, erhielten eine doppelte Ration frisch gebratenes Schweinefleisch – sie hatten das kleine, aber wohlgenährte Borstenvieh geschlachtet, das als lebender Proviant mit an Bord gekommen war. Caldris, Jean und Locke tranken natürlich nicht mit, und vier Deckshände, die sich lieber satt essen als volllaufen lassen wollten, entschieden sich für den Schweinebraten.
»Solche Gelegenheiten vermitteln den Leuten das Gefühl, das Schiff sei ihre Heimat«, erwiderte Caldris. »Es hilft ihnen zu vergessen, welche Strapazen und Gefahren da draußen auf einen lauern.«
»So schlimm ist es doch gar nicht«, bemerkte Locke ein bisschen nachdenklich.
»Aye, so spricht der Käpt’n in einer Nacht, die ein Geschenk der Götter ist.« Er inhalierte den Tabakqualm und blies ihn über die Reling aus. »Tja, wenn wir noch ein paar unterhaltsame Abende wie diesen organisieren können, wäre das eine verdammt feine Sache. Glückliche Momente tragen mehr zur Disziplin bei als eine Peitsche und Eisenketten, das versichere ich Ihnen.«
Locke schaute hinaus über die schwarzen Wogen und zuckte überrascht zusammen, als eine helle, weiß-grüne Kreatur, die wie eine alchemische Laterne glühte, hoch aus dem Wasser sprang und wenige Sekunden später klatschend wieder eintauchte. Als er
Weitere Kostenlose Bücher