Sturm ueber roten Wassern
ihn Locke in puncto Nautik weit überlegen sein ließ. Er war ein guter Maat, und auch für diesen Glücksfall musste Locke dankbar sein. Die Männer, die sich hinter Jabril geschart hatten, gaben jedoch Anlass zu Bedenken; instinktiv wusste Locke, dass sie eine Beschäftigung brauchten, damit ihre Frustration über die entgangene Prise nicht in gefährliche Unzufriedenheit umschlug.
»Streva«, sprach er den jüngsten Burschen an, »wirf das Logscheit aus! Mal, du beobachtest das Minutenglas. Die Ergebnisse meldet ihr Meister Caldris. Jabril, verstehst du was vom Bogenschießen?«
»Aye, Käpt’n. Ich kann mit jeder Art von Bogen umgehen. Treffe eigentlich immer das Ziel.«
»Im Stauraum achtern findest du in einem Schapp zehn Bögen und mehrere hundert Pfeile. Bastel ein paar Zielscheiben aus Stroh und Leinwand. Die stellst du dann am Bug auf, damit keinem versehentlich in den Arsch geschossen wird. Teil die Jungs in Gruppen auf, und veranstalte mit ihnen Schießübungen, täglich, wenn das Wetter es erlaubt. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, ein fremdes Schiff aufzubringen, müssen erstklassige Schützen in den Masttoppen sitzen.« »Gute Idee, Käpt’n.«
Zumindest dieser Vorschlag gefiel den Matrosen, die immer noch in der Nähe des Achterdecks herumlungerten. Die meisten von ihnen folgten Jabril durch eine Luke, die zum Hauptdeck hinunterführte. Das offenkundige Interesse der Männer an dem Übungsschießen brachte Locke auf einen weiteren Gedanken.
»Meister Valora!«
Jean hockte mit Mirlon, dem Smutje, zusammen, und die beiden inspizierten etwas an dem kleinen Herd aus Ziegeln, der in der Back untergebracht war. Als er Lockes Ruf hörte, winkte er ihm zu.
»Bei Sonnenuntergang muss jeder Mann an Bord wissen, wo sich die Waffenschapps befinden. Kümmern Sie sich selbst darum.«
Jean nickte und wandte sich wieder dem Herd zu. Locke sagte sich, dass es bei den Männern gut ankäme, wenn Kapitän Ravelle ihnen zeigte, wie sehr er ihnen vertraute.
Wenn es sein ausdrücklicher Wunsch war, dass jeder Einzelne an Bord Zugang zu den Waffen hatte – außer Bögen gab es noch Äxte, Säbel, Knüppel und ein paar Hellebarden –, dann diente dies dem Zusammenhalt und der Moral der Leute mehr, als wenn er die Kampfwerkzeuge unter Verschluss hielt oder versteckte.
»Gut gemacht«, murmelte Caldris ihm aus dem Mundwinkel zu.
Mal sah zu, wie die letzten Sandkörner durch das Minutenglas rieselten, das am Großmast befestigt war, dann schwenkte er herum und brüllte: »Stopp die Leine! Was laufen wir?«
»Siebeneinhalb Knoten«, meldete Streva einen Moment später.
»Siebeneinhalb«, wiederholte Caldris. »Ordentliche Leistung. Seit dem Auslaufen aus Verrar haben wir dieses Tempo ziemlich gleichmäßig gehalten. Ein gutes Etmal.«
Locke warf einen Blick auf die nautischen Tafeln, auf denen Caldris ihren Kurs absteckte, danach las er den Kompass. Sie steuerten einen Kurs, der einen Strich westlich von genau Süd lag.
»Wir machen ausgezeichnete Fahrt, wenn die günstige Brise anhält«, nuschelte Caldris mit der Zigarre im Mund. »Von heute an gerechnet, können wir in zwei Wochen den Geisterwind-Archipel erreichen. Ich weiß zwar nicht, was der Käpt’n denkt, aber mir passt es verdammt gut, wenn wir dem Zeitplan ein bisschen voraus sind.«
»Was denken Sie – wird die günstige Brise sich halten?«, fragte Locke so leise wie möglich, ohne dem Segelmeister ins Ohr flüstern zu müssen.
»Gute Frage. Wenn der Sommer zu Ende geht, sind die Wetterbedingungen auf dem Messing-Meer unberechenbar. Überall können sich Stürme zusammenbrauen. Und es ist bereits was im Anmarsch, ich spüre es in den Knochen. Das schwere Wetter ist noch ein gutes Stück entfernt, aber es kommt – es kommt mit Sicherheit.«
»Das sind ja reizende Aussichten.«
»Wir reiten die Stürme ab, Käpt’n!« Caldris nahm kurz seine Zigarre aus dem Mund, spuckte etwas Bräunliches auf die Decksplanken und steckte sich den qualmenden Stumpen wieder in den Mund. »Ich bin da ganz zuversichtlich – der Herr der Gierigen Wasser ist uns wohlgesinnt.«
13
»Bring ihn um, Jabril! Triff ihn mitten in sein verfluchtes Herz!«
Jabril stand in der Kühl und fixierte einen Gehrock (eine Spende aus Lockes Truhe), der an ein breites Brett genagelt und in einer Entfernung von rund dreißig Schritt am Großmast aufgestellt war. Seine bloßen Zehen berührten einen grob gezogenen Kreidestrich auf den Decksplanken. In der rechten Hand hielt
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