Sturm ueber roten Wassern
leuchtende Sündenturm verschwanden langsam hinter der dunkleren Masse des südwestlichen Bogens der Stadt. Dann passierten sie die Fahrrinne, welche die gläsernen Riffe durchschnitt, in Richtung des offenen Messing-Meers, wo Gefahren und Piraten auf sie warteten. Ihre Aufgabe bestand darin, den Krieg zu suchen und ihn gemäß den Wünschen des Archonten nach Tal Verrar zu tragen.
12
»Segel ahoi! Zwei Strich backbord querab!«
Der Schrei des Ausgucks hallte am dritten Morgen ihrer Reise aufs Deck hinunter.
Locke saß in seiner Kajüte und betrachtete sein verschwommenes Bild in dem verbeulten kleinen Spiegel, den er in seine Truhe gepackt hatte. Bevor sie in See gestochen waren, hatte er seinen Haaren mithilfe eines alchemischen Mittels aus seinem Vorrat von Maskierungsutensilien die natürliche Farbe wiedergegeben, und nun spross auf seinen Wangen ein Flaum in derselben Schattierung. Er war sich noch nicht sicher, ob er sich rasieren oder den Bart stehen lassen sollte, doch sowie er den Ruf vom Masttopp hörte, vergaß er sämtliche Überlegungen in dieser Richtung. Im Nu rannte er aus der Kajüte, hastete die schwer zu erklimmenden Stufen der im Halbdunkel liegenden Niedergangstreppe hinauf und gelangte auf das von der Morgensonne überstrahlte Achterdeck.
Ein Schleier aus hohen, weiße Wolken zog sich über den Himmel, wie Fetzen von Tabakqualm, die sich weit von den Pfeifenköpfen, in denen sie entstanden waren, entfernt hatten. Seit sie durch den Kanal in die offene See vorgedrungen waren, kam der Wind raum-seitlich von backbord ein, und die Roter Kurier krängte leicht nach steuerbord. Das ewige Schaukeln und Knarren des Schiffs und die dauernde Schräglage des Decks waren Locke gänzlich fremd, denn während seiner ersten Seereise war er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands in seiner Kabine geblieben.
Die Agilität, die er sich als Dieb angeeignet hatte, half ihm, sich einigermaßen sicher über das Deck zu bewegen, doch vorsichtshalber vermied er es, übermäßig viel herumzulaufen. Er hatte Angst, er könnte sich vor den wetterharten Profis, die seit ihrer frühesten Jugend zur See fuhren, verraten. Wenigstens wurde er dieses Mal nicht seekrank, und dafür dankte er dem Korrupten Wärter inbrünstig. Nicht jeder an Bord hatte in dieser Hinsicht so viel Glück wie er. »Was gibt’s, Meister Caldris?«
»Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Käpt’n! Der Ausguck im Masttopp meldet weiße Segel zwei Strich backbord querab.«
Caldris hatte an diesem Morgen selbst das Ruder übernommen, und er paffte einen billigen Tabak, der wie Schwefel stank. Locke rümpfte die Nase.
Innerlich einen Seufzer ausstoßend und sich möglichst vorsichtig bewegend, zückte Locke sein Fernrohr und eilte nach vorn auf das Backdeck, wo er sich an die Bugreling stellte. Ja, da war das Schiff – mit dem Rumpf unter der Kimm –, ein winziger weißer Fleck, kaum sichtbar über dem Dunkelblau des fernen Horizonts. Als er aufs Achterdeck zurückkehrte, standen Jabril und mehrere andere Seeleute bereit und warteten auf seine Befehle.
»Wollen wir uns das Schiff näher ansehen, Käpt’n?« Jabrils Frage klang bloß neugierig, doch die Männer hinter ihm machten einen überaus unternehmungslustigen Eindruck.
»Ihr könnt wohl nicht früh genug an die versprochenen gleichen Prisenanteile rankommen, was?« Locke mimte ernste Besorgnis und warf Caldris einen schnellen Blick zu, der ihm das vereinbarte Zeichen für ein energisches »Nein« gab. Mit nichts anderem hatte Locke gerechnet – und er konnte eine Reihe von einleuchtenden Gründen für seine Weigerung auswendig abspulen.
»Das Risiko, jetzt schon ein Schiff aufzubringen, wäre zu groß, Männer, das wisst ihr genauso gut wie ich. Unsere Besatzung ist noch nicht eingespielt, und für einen Enterkampf braucht man eine erprobte, zusammengeschweißte Crew. Ein Viertel der Mannschaft ist zu entkräftet, um reguläre Arbeiten an Bord zu verrichten, geschweige denn, sich auf eine Schlacht einzulassen. Wir haben genug Frischproviant an Bord, es fehlt uns an nichts, und deshalb gibt es keinen Grund, etwas zu überstürzen. Es wird noch genug Gelegenheiten geben, fette Prisen zu erbeuten. Kurs halten, Meister Caldris.«
»Kurs halten, aye!«
Jabril akzeptierte diese Entscheidung; Locke merkte immer deutlicher, dass der Mann über eine gute Portion gesunden Menschenverstand verfügte und sich mit fast sämtlichen Aspekten der Schiffsführung auskannte, was
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