Sturm ueber roten Wassern
wie gut es um Jabrils nautische Kenntnisse bestellt war, hätte er den Mann von vornherein damit beauftragt, an solche Details zu denken; doch nun war es zu spät, und seine eigene Unfähigkeit kam immer mehr zum Vorschein.
»Verzeihen Sie mir, Jabril. Caldris war ein guter Freund. Sein Tod hat mich ein bisschen aus dem Gleichgewicht gebracht!«
»Na so was! Aber wenn das verfluchte Schiff untergeht, werden wir alle aus dem Gleichgewicht gebracht, und nicht nur ein bisschen!« Jabril machte kehrt und arbeitete sich entlang der Backbordreling zum Bug vor; doch nach ein paar Sekunden schwenkte er herum und fuhr Locke an: »Sie und ich, wir beide wissen, dass es keine einzige Katze an Bord gibt, Ravelle!«
Locke senkte den Kopf und klammerte sich an den Großmast. Ihm war klar, dass Mazucca und die Matrosen, die hinter ihm standen, Jabril gehört haben mussten. Doch als er sich zu ihnen umdrehte, wirkten ihre Mienen unergründlich. Ohne ihn zu beachten, starrten sie nach vorn in den Sturm; die Männer verhielten sich, als gäbe es ihren Kapitän gar nicht.
2
Die Situation unter Deck glich einem Albtraum. Oben sah man wenigstens die Masten und die sich überschlagenden Monsterwellen, an denen sich der Blick festhalten konnte. Hier unten jedoch, wo es nach Schweiß, Urin und Erbrochenem stank, schienen sich die bebenden Schiffswände nach Lust und Laune zu bewegen. Trotz der Sturmplanen rann das Wasser in Strömen die Niedergänge hinunter und tropfte durch die Grätings. Das Hauptdeck hallte wider vom gedämpften Heulen des Windes, und aus dem tiefer liegenden Orlop drang das Klirren der Pumpen.
Die Pumpen waren erstklassige Verrari-Geräte; sie saugten Wasser nach oben und spien es mit einer beachtlichen Geschwindigkeit über die Seiten aus, aber bei einem solchen Unwetter mussten sie in Schichten von jeweils acht Mann bedient werden, und die Arbeit war mörderisch. Selbst eine Mannschaft, die sich bei bester Gesundheit befand, hätte diese Schinderei nicht lange durchgehalten; und diese Besatzung, die samt und sonders eine schwächende Kerkerhaft hinter sich hatte, wurde bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben.
»Das Wasser steigt, Käpt’n!«, meldete ein Seemann, den Locke in dem Halbdunkel, das hier unten herrschte, nicht erkannte. Der Mann hatte seinen Kopf durch eine Luke im Orlop gesteckt. »Es steht drei Fuß hoch im Pumpensumpf. Aspel meint, irgendwo müsse ein Leck sein; er sagt, er braucht Männer für einen Reparaturtrupp.«
Aspel war an Bord so etwas wie der Schiffszimmermann. »Er soll sie haben«, antwortete Locke, obwohl er keine Ahnung hatte, wo er die Leute hernehmen sollte.
Zehn Matrosen arbeiteten an Deck und waren unabkömmlich; acht quälten sich an den Pumpen herum … und es wurde langsam Zeit, sie abzulösen. Sechs oder sieben waren immer noch so schwach, dass sie außer als Ballast zu nichts nütze waren. Eine Gruppe kämpfte zusammen mit Jean in der Orloplast darum, Fässer mit Proviant und Trinkwasser zu retten, nachdem sich drei aus ihrer Vertäuung gerissen hatten und aufgeplatzt waren. Acht Matrosen schliefen nur wenige Schritte entfernt auf dem Hauptdeck wie die Toten, nachdem sie sich die ganze Nacht lang abgeschuftet hatten.
Zwei Männer mit Knochenbrüchen versuchten, die Schmerzen mit einer nicht genehmigten Ration Wein zu lindern. Die Anforderungen, die der Orkan an die Besatzung stellte, machte die routinemäßigen Wachen zunichte, und Locke bemühte sich, eine Anwandlung von Panik zu unterdrücken.
»Hol Meister Valora aus dem Orlop«, befahl er schließlich. »Sag ihm, er und seine Leute sollen Aspel zur Hand gehen, und erst wenn das Leck gefunden und abgedichtet ist, können sie wieder anfangen, die Vorräte zu sichern.«
»Aye, Käpt’n.«
»Käpt’n Ravelle!«
Nachdem der Mann sich entfernt hatte, drang wieder ein Ruf nach oben; Locke beugte sich über die Luke und schrie zurück: »Was gibt’s?«
»Wir arbeiten schon viel zu lange an den verdammten Pumpen, Käpt’n. Bei allen Göttern, aber dieses Tempo können wir nicht mehr lange aufrechterhalten. Wir müssen abgelöst werden. Und wir brauchen was zu essen!«
»Ihr bekommt beides!«, erwiderte Locke. »Aber erst in zehn Minuten.« Wie er die Ablösung bewerkstelligen sollte, war ihm schleierhaft; sämtliche Männer, die infrage gekommen wären, waren entweder krank, verletzt, völlig erschöpft oder anderweitig beschäftigt. Er drehte sich um und wollte zurück an Deck gehen. Er konnte
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