Sturm ueber roten Wassern
die Deckwache mit den Männern an den Pumpen austauschen; keiner Gruppe brächte das die erhoffte Erleichterung, aber vielleicht schafften sie es auf diese Weise, die totale Katastrophe um ein paar kostbare Stunden hinauszuschieben.
3
»Was soll das heißen, ihr habt die Stundengläser nicht umgedreht?«
»Es tut uns verdammt leid, Käpt’n, aber wir hatten keine Zeit, die Gläser umzudrehen oder das Logscheit auszuwerfen seit … zur Hölle, ich weiß es nicht. Aber es ist schon eine ganze Weile her.«
Der Kahle Mazucca und sein Gehilfe schienen sich eher am Ruder festzuhalten, als das Schiff damit zu steuern. An den beiden Rädern standen je zwei Männer; die Luft war angefüllt vom Dröhnen des Windes und dem peitschenden Regen, der von allen Seiten zu kommen schien. Der Bug der Kurier durchschnitt zwanzig Fuß hohe Brecher und tauchte tief in das gischtige Wasser ein, das in weißschäumenden Wirbeln über das Deck strömte und an Lockes Knöcheln vorbeirauschte. Den südlichen Kurs hatten sie aufgeben müssen, und nun preschten sie mit einer einzigen Sturmfock platt vor dem Wind nach Westen. Immer und immer wieder pflügten sie sich durch haushohe Wellen.
Der vorbeihuschende gelbe Blitz, den Locke aus dem Augenwinkel sah, war eine Sturmlaterne, die sich aus ihrer Verankerung gerissen hatte und über Bord flog, um schon bald von den Fischen der Tiefsee bestaunt zu werden.
Locke hangelte sich zum Kompasshaus und blätterte in den feuchten Seiten des Logbuchs; die letzte hastig hingekritzelte Eintragung lautete:
3. Std. d. Nachmtgs 7 Festal 78 Morgante s/w 8 kn
Möge Iono unseren Seelen gnädig sein
Locke konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal das Gefühl gehabt hatte, die dritte Nachmittagsstunde sei angebrochen. Der Sturm verfinsterte den Tag, und selbst um die Mittagszeit war es so dunkel wie im Schlund eines Hais; wenn es jedoch mitten in der Nacht zu sein schien, sorgte das pausenlose Blitzgeflacker für eine gespenstische Beleuchtung. Mittlerweile waren sie losgelöst von Zeit und Raum.
»Zumindest wissen wir, dass wir uns irgendwo auf dem Messing-Meer befinden«, brüllte er gegen den infernalischen Lärm an. »Dieser Spuk wird bald vorbei sein, und dann nehmen wir eine exakte Ortsbestimmung vor.«
Doch das war leichter gesagt als getan. Vor Angst und Erschöpfung konnte Locke nicht mehr klar denken; egal, in welche Richtung er blickte, er sah nur graue, wirbelnde Massen, und seine letzte Mahlzeit hatte er über die Heckreling geschickt … nur die Götter wussten, wann das gewesen war. Vermutlich vor Stunden. Wäre in diesem Moment ein Soldmagier aus Karthain auf Deck erschienen und hätte angeboten, das Schiff mithilfe von Magie in Sicherheit zu bringen, wäre Locke auf die Knie gefallen und hätte ihm die Füße geküsst.
Plötzlich ertönte von oben ein fürchterliches Getöse; ein Knall wie bei einer Explosion, gefolgt vom jaulenden Zischen eines gerissenen Taus, das durch die Luft peitscht.
Sekunden später hörte man ein donnerndes Krachen, und danach eine Reihe klatschender Geräusche, wie von einer Rute, die sich in nacktes Fleisch gräbt.
»Wahrschau an Deck!«, schrie Jabril von irgendwoher aus dem Bug; unter Locke bäumte sich das Schiff auf, als ein Brecher gegen die Bordwand krachte. Lockes mangelnde Standfestigkeit rettete ihm das Leben. Als er auf dem überfluteten Deck ausrutschte, sauste ein Schatten an seiner linken Schulter vorbei. Wie von weit her vernahm er ein ohrenbetäubendes Splittern und Knirschen, jemand stieß einen wilden Schrei aus, und plötzlich hüllte ihn totale Schwärze ein, als etwas Weiches und Glattes sich über ihn stülpte.
Segeltuch! Unter Aufbietung aller Kräfte kämpfte sich Locke unter dem herabgefallenen Segel hervor. Starke Hände packten ihn bei den Oberarmen und stellten ihn auf die Füße. Die Pranken gehörten zu Jean, der sich mit dem Rücken gegen die Steuerbordreling des Achterdecks stemmte. Als Locke stürzte, war er ein Stück weit nach rechts gerutscht. Er murmelte ein Dankeschön, drehte sich um und sah genau das, was er befürchtet hatte.
Die Bramstenge des Großmasts war abgebrochen. Durch eine Laune des Windes oder die heftigen Schlingerbewegungen des Schiffs mussten die Stagen gerissen sein. Im Sturz hatte die Stenge das an der Rah aufgetuchte Segel entrollt und mit nach unten geschleift, bis ein wüstes Durcheinander aus verdrallter Takelage es zurückgezerrt und wie ein Pendel über das Deck gefegt
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