Sturm ueber roten Wassern
frühmorgens auf dem Achterdeck erschien, lag ein hässlicher, geisterhaft grauer Dunst über dem südlichen Horizont wie der Schatten eines zornigen Gottes. Die Sonne, die wie ein glänzendes goldenes Medaillon am ansonsten blanken Himmel aufstieg, ließ die ferne Nebelbank noch unheimlicher wirken. Das Schiff neigte sich so weit nach Lee, dass man das Gefühl hatte, man müsse einen Berg erklimmen, wenn man sich zur anderen Seite hangeln wollte. Brecher klatschten gegen die Bordwand, zerstäubten dort zu Gischt und füllten die Luft mit dem Geruch und dem Geschmack von Salz.
Mittschiffs drillte Jean eine kleine Gruppe Matrosen im Umgang mit Säbeln und Stangenwaffen; Locke nickte wissend, als ob er jede Nuance des Exerzierens verfolgte und billigte. Er machte einen Rundgang über das Deck, begrüßte die Matrosen mit Namen und versuchte das Gefühl zu ignorieren, dass Caldris’ Blicke Löcher in den Rücken seiner Tunika bohrten.
»Guten Morgen, Käpt’n«, murmelte der Segelmeister, als Locke sich dem Steuerrad näherte. In dem gleißenden Sonnenlicht sah Caldris aus wie ein Gespenst; sein Haupthaar und der Bart wirkten weißer als sonst, die Augen lagen tief in den Höhlen.
Es war beinahe so, als habe irgendein Gott, der den Alten für sich beanspruchte, alle seine Züge neu und viel prägnanter gezeichnet.
»Haben Sie letzte Nacht überhaupt geschlafen, Meister Caldris?«
»Nein, Käpt’n. Ich hab kein Auge zugekriegt.«
»Irgendwann müssen Sie sich aber ausruhen.«
»Aye, und das Schiff muss gesteuert werden, wenn wir nicht alle untergehen wollen.«
Locke seufzt e, stellte sich mit dem Gesicht zum Bug und betrachtete den sich verdunkelnden südlichen Himmel. »Ein Sturm zum Sommerausklang, würde ich sagen. Von denen habe ich während meiner vielen Jahre auf See genug abgeritten!« Er sprach laut und betont lässig.
»Und bald werden Sie den nächsten abreiten, Käpt’n.«
Den Nachmittag verbrachte Locke in der Hauptlast und prüfte die Vorräte; bei ihm befand sich Mal, der als Schreiber fungierte und kleine Striche in ein Wachstäfelchen ritzte. Sie hangelten sich durch einen Wald aus Salzfleisch in präparierten Stoffbeuteln, die in der Last von den Balken hingen und im Rhythmus mit dem sich verstärkenden Schlingern des Schiffs sachte hin und her pendelten. Die Luft in dem Frachtraum war bereits stickig, weil sich hier ständig die Mannschaft aufhielt; die Matrosen, die sonst lieber in der besser belüfteten Back schliefen, hatten sich angesichts des drohenden Unwetters in die Last verzogen. Locke fand, dass es nach Pisse roch; irgendwer war entweder zu faul oder zu ängstlich gewesen, um nach oben zu klettern und den offenen Abtritt im Bug aufzusuchen. Das konnte unangenehm werden. Zur vierten Nachmittagsstunde hatte sich der gesamte Himmel mit einem grauen Schleier überzogen. Caldris lehnte sich mit hängenden Schultern gegen den Mast und gönnte sich eine kurze Pause, während der Kahle Mazucca und ein anderer Seemann das Steuerrad hielten; pausenlos bellte der alte egelmeister Befehle, ordnete Sturmbesegelung an und ließ Laternen aus den Sturmschapps holen und verteilen. Jean und Cabril führten Trupps unter Deck und vergewisserten sich, ’ass Fracht und Ausrüstung sturmfest verstaut waren. Ein plötzlich aufspringendes Waffenschapp oder ein umherrollendes Fass konnten einem glücklosen Seemann zu einer verfrühten Begegnung mit den Göttern verhelfen.
Auf Caldris’ geflüsterte Anweisung hin befahl Locke nach dem Abendessen den Seeleuten, die sich an dem mitgeführten Tabak schadlos gehalten hatten, das Rauchen bis auf Weiteres einzustellen. Offenes Feuer würde nirgendwo mehr geduldet; sämtliche Beleuchtung dürfe nur noch von alchemischen Laternen stammen. Für die Essenszubereitung würde lediglich der Herdstein benutzt, doch wahrscheinlich gäbe es ohnehin nur kalte Mahlzeiten. Als Ausgleich versprach Locke jeden Abend eine zusätzliche halbe Weinration.
Der Himmel hatte sich vorzeitig verdunkelt, als Locke und Jean sich endlich in die Achterkajüte zurückziehen und in Ruhe etwas trinken konnten. Locke brachte an den Heckfenstern die Blenden an, und die Kammer wirkte noch beengter als sonst.
Nachdenklich betrachtete er den Komfort in der Kajüte, der Ravelle aufgrund seiner Autorität zustand; die gepolsterte Hängematte am Schott, die beiden Stühle, seinen Säbel und die Messer, die von Sturmklammern an der Wand gehalten wurden. Der »Tisch« bestand aus einem Holzbrett
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