Sturm ueber roten Wassern
krampfte sich Lockes Magen zusammen, dennoch sah er genauer hin.
Es war tatsächlich, wie er es sich gedacht hatte … ein Teil des hellbraunen Likörs war aus dem Becher über eine Spielkarte geflossen. Die Karte hatte sich zu einem Fleck aus homogener grauer Masse aufgelöst.
»Sie haben die Karten aus meiner Truhe genommen«, stellte er fest. »Das Päckchen, das in eine doppelte Lage Wachstuch eingewickelt war.«
»Ja.«
»Und zu Ihrer Mahlzeit tranken Sie einen ziemlich hochprozentigen Likör. Eines Ihrer Kinder hat den Becher umgekippt.«
»Karamellbrandy, und verschüttet habe ich ihn selbst.« Sie nahm einen Dolch und stocherte mit der Spitze an dem formlosen grauen Fladen herum. Obwohl er glänzte, war er hart und kompakt, und die Klinge glitt daran ab wie von Granit. »Was zur Hölle ist das? Das sieht ja aus wie … alchemischer Zement.«
»Das ist alchemischer Zement. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die Karten merkwürdig riechen?«
»Warum zur Hölle sollte ich an Spielkarten schnuppern?« Sie runzelte die Stirn.
»Kinder, rührt die Karten nicht mehr an. Das Beste wird sein, ihr geht und setzt euch auf euer Bett, bis Mami euch die Hände waschen kann.«
»Das Zeug ist nicht gefährlich«, erklärte Locke.
»Interessiert mich nicht«, erwiderte sie. »Paolo, Cosetta, legte eure Hände auf den Schoß und wartet auf Mami.«
»Das sind keine richtigen Spielkarten«, fuhr Locke fort. »Sondern alchemische Harzoblaten. Dünn wie Papier und biegsam. Die Farben sind aufgemalt. Sie glauben gar nicht, wie teuer diese Karten waren.« »Ich will es gar nicht wissen. Und wozu sollen die gut sein?«
»Liegt das nicht auf der Hand? Wenn man eine Karte in einen starken Likör tunkt, löst sie sich binnen weniger Sekunden auf. Und plötzlich hat man einen kleinen Klumpen aus alchemischem Zement. Das Zeug trocknet in rund einer Minute und ist dann hart wie Stahl.«
»Hart wie Stahl?« Sie beäugte den grauen Flatschen auf ihrer schönen, lackierten Tischplatte. »Und wie kriegt man es wieder ab?«
»Ähem … überhaupt nicht. Es gibt kein Lösungsmittel. Jedenfalls nicht außerhalb eines alchemischen Labors.«
»Was? Verdammt noch mal, Ravelle …«
»Käpt’n, jetzt sind Sie ungerecht. Ich habe Ihnen nicht gesagt, Sie sollen die Karten aus meiner Truhe nehmen und damit spielen. Und ich habe auch nicht den Likör darübergekippt.«
»Du hast recht.« Drakasha seufzte. Locke fand, sie sah müde aus. Die feinen Sorgenfältchen um ihren Mund schienen sich verstärkt zu haben. »Sammle die restlichen Karten ein, und wirf sie über Bord.«
»Käpt’n, bitte. Bitte.« Locke streckte ihr die Hände entgegen. »Sie sind nicht nur sehr teuer, sie wären auch … verdammt schwer zu ersetzen. Es würde Monate dauern, an neue heranzukommen. Erlauben Sie mir, dass ich sie einfach wieder in das Wachstuch einwickle und sie in die Truhe zurücklege. Betrachten Sie sie bitte als Bestandteil meiner Papiere.«
»Wozu benutzt du diese Dinger?«
»Sie gehören zum Inventar meiner Trickkiste«, erwiderte er. »Das Letzte, was mir von der einst recht üppigen Ausstattung geblieben ist. Mit ihnen möchte ich noch ein einziges Mal einen wichtigen kleinen Trick durchführen. Ich schwöre Ihnen, sie stellen weder für Sie noch für Ihr Schiff irgendeine Bedrohung dar … sie verändern erst ihre Konsistenz, wenn man sie mit Schnaps übergießt, und selbst dann sind sie bloß ein Ärgernis. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn ich die Karten behalten darf und Sie mir ein paar Messer mit skalpellscharfen Schneiden besorgen, werde ich meine gesamte Zeit opfern und diesen Mist von Ihrem Tisch kratzen. Ich könnte versuchen, es von den Seiten aus hochzuhebeln. Selbst wenn es eine ganze Woche dauert. Bitte.« Wie sich dann herausstellte, brauchte er zehn Stunden an Deck, um die Masse mit äußerster Vorsicht von der Platte zu schaben, als führe er eine komplizierte Operation durch. Er arbeitete ohne Pause, zuerst bei Sonnenlicht und dann im Schein mehrerer Laternen, bis das teuflisch harte Zeug abgeschürft war und nur noch ein schwacher trüber Schimmer auf dem Lack zeigte, wo es angeklebt gewesen war.
Als er endlich in seine winzige Schlafnische kroch, wusste er, dass seine Hände und Unterarme noch den ganzen nächsten Tag über schmerzen würden.
Aber die Mühe hatte sich gelohnt, jede einzelne Minute hatte sich gelohnt, um dieses spezielle Kartenspiel zu erhalten.
4
Am zwanzigsten Tag gab Drakasha den
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