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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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kam wie ein Irrer schreiend auf die Füße.
    Überall an Deck herrschte Chaos, doch keiner beachtete ihn. Es gab keine Klingennetze, keine Bogenschützen, keine Phalanx aus Piken oder Schwertern, bereit, sich auf die Enterer zu stürzen. Matrosen, Männer wie Frauen, rannten aufgelöst und in Panik umher. Ein einzelner Wasserschlauch lag zu Lockes Füßen auf den Planken wie eine tote braune Schlange, aus deren Rachen gurgelnd Meerwasser in eine sich ausbreitende Pfütze strömte.
    Ein Matrose schlitterte durch die Lache und prallte mit haltlos rudernden Armen gegen ihn. Locke hob den Säbel, der Mann wich erschrocken zurück und riss die Hände hoch, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
    »Wir wollen uns ergeben!«, keuchte der Matrose. »Wirklich! Aber sie lassen es nicht zu! Mögen die Götter uns beistehen!«
    »Wer? Wer lässt nicht zu, dass das Schiff sich ergibt?«
    Der Matrose deutete auf das erhöhte Achterdeck des Schiffs, und Locke wirbelte herum, um zu sehen, was sich dort befand.
    »Zur Hölle’.«, flüsterte er.
    Es waren mindestens zwanzig, alles Männer, wie aus einem Guss. Sonnengebräunt, vierschrötig, mit schwellenden Muskeln. Ihre Barte waren sauber gestutzt, das schulterlange Haar zu klappernden Perlenschnüren geflochten. Die Köpfe waren mit knallgrünen Tüchern umwickelt, und aus Erfahrung wusste Locke, dass das, was wie dünne, dunkle Ärmel irgendeines Kleidungsstücks aussah, in Wirklichkeit heilige Verse waren, die mit schwarzer und grüner Tinte so dicht eintätowiert waren, dass kein Fleckchen Haut unbedeckt blieb.
    Jeremitische Erlöser. Religiöse Fanatiker, die glaubten, dass sie die einzig mögliche Rettung für ihre sündhafte Insel seien. Sie machten sich selbst zu lebenden Opfergaben an die Jeremitischen Götter, zogen als Exilanten durch die Welt und lebten fromm wie die Mönche, bis jemand sie bedrohte.
    Sie hatten den heiligen Eid geleistet, zu töten oder sich töten zu lassen, wenn man ihnen Gewalt androhte; sie wollten ehrenhaft für Jerem in den Tod gehen oder gnadenlos jeden umbringen, der die Hand gegen sie erhob. Und nun fixierten sie alle Locke.
    »Der Heide bietet uns eine rote Säuberung an!« Ein Erlöser, der in der vordersten Reihe stand, zeigte auf Locke und hob seine mit Messingnägeln beschlagene Keule aus Hexenholz. »Lasst uns unsere Seelen mit dem Blut des Heiden rein waschen! TÖTET FÜR DAS HEILIGE JEREM!«
    Mit hocherhobenen Waffen stürmte die Gruppe von Erlösern die Treppe des Achterdecks herunter, während sie Locke anvisierten und dabei eindrucksvoll demonstrierten, wie Irre tatsächlich schrien. Ein Matrose versuchte ihnen auszuweichen und wurde niedergestreckt; unter der Keule des Anführers platzte sein Schädel wie eine Melone. Die nachdrängenden trampelten einfach über den Leichnam hinweg.
    Locke konnte nicht anders. Die Stampede dieser entfesselten, kampferprobten und völlig wahnsinnigen Kerle war so weit entfernt von allem, was er bisher erlebt hatte, dass er hysterisch losprustete; er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Er war verängstigt bis ins Mark, und das verschaffte ihm unversehens die totale Freiheit. Er riss seinen einzigen, nutzlosen Säbel hoch und startete einen Gegenangriff; mit einem Gefühl, als sei er leicht wie ein Staubkorn im Wind, warf er sich auf die herantosende Meute und brüllte: »Dann kommt doch! Nehmt es mit Ravelle auf! Er ist euer Untergang, beim Willen der Götter! Kämpft mit ihm, ihr verdammten HUREN SÖHNE!«
    Eigentlich hätte er wenige Sekunden später tot sein müssen. Wie immer war es Jean, der dem Schicksal einen Strich durch die Rechnung machte.
    Der Anführer der Jeremiten stürzte sich auf Locke. Wie ein Rammbock kam er herangedonnert, ein mordgieriger Fanatiker, doppelt so schwer wie Locke. Die Keule, auf deren Messingnägeln Blut und Sonnenlicht glänzten, war zum Schlag erhoben.
    Plötzlich war dort, wo sein Gesicht hätte sein müssen, eine Axt; der Griff ragte aus der zertrümmerten Augenhöhle heraus. Nicht die Keule, sondern der Zusammenprall mit dem entseelten Körper warf Locke zu Boden und presste ihm die Luft aus den Lungen.
    Heißes Blut spitzte über sein Gesicht und den Hals, während er hektisch versuchte, sich unter dem zuckenden Leib hervorzuwinden. Auf einmal war das Deck rings um ihn her angefüllt mit schreienden, wild um sich tretenden, kämpfenden und niederstürzenden Gestalten.
    Die Welt löste sich auf in unzusammenhängende Bilder und Empfindungen. Locke fand

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