Sturm ueber roten Wassern
weiteren Putz. Delmastro schnappte sich einen Sonnenschirm und drückte ihn Locke in die Hand. »Für dich, Ravelle. Damit du möglichst harmlos aussiehst.«
Locke hob den zusammengeklappten Sonnenschirm und fuchtelte damit betont aggressiv in der Luft herum, was ihm ein paar nervöse Lacher einbrachte. »Wie der Käpt’n gesagt hat, bleibt in jedem Boot einer von uns sitzen, um sicherzugehen, dass wenigstens die Boote zurückkommen, selbst wenn wir euch verlieren«, rief Delmastro. »Valora und Ravelle kommen mit mir in das kleine Beiboot, das uns die Kurier gestiftet hat. Außerdem du und du.« Sie deutete auf Streva und Jabril. »Was immer passiert, wir sind die Ersten, die längsseits gehen, und die Ersten, die die Bordwand hochklettern.«
Oscar, der Bootsmann, erschien mit einem kleinen Trupp von Gehilfen, die Taue und Taljen heranschleppten und anfingen, Geschirre aufzuriggen. »Noch etwas«, sagte Delmastro. »Wenn sie um Gnade bitten, gewährt ihr Pardon. Wenn sie die Waffen strecken, respektiert ihr das. Solange sie jedoch kämpfen, metzelt ihr sie nieder, wo sie gehen und stehen. Und wenn ihr auf einmal so etwas wie Mitleid verspürt, dann denkt daran, welches Signal wir setzen mussten, damit sie einem brennenden Schiff zu Hilfe kamen.«
6
Vom Wasser aus gewann man tatsächlich den Eindruck, als stünde das Schiff in Flammen. Mittlerweile brannten sämtliche Rauchfässer; das Schiff zog eine schwarzgraue Fahne hinter sich her, die das gesamte Achterdeck einhüllte. Hin und wieder tauchte Zamiras Gestalt auf, deren Fernrohr kurz das Sonnenlicht reflektierte, ehe sie wieder in der Düsternis verschwand. Eine Gruppe Matrosen hatte mittschiffs kleine Pumpen und Segeltuchschläuche verteilt (an der Reling, wo man sie am besten sehen konnte), und sie richteten Wasserströme auf die Qualmwolke, obwohl sie in Wirklichkeit nur das Deck abspritzten.
Locke saß im Bug des kleinen Boots und kam sich irgendwie lächerlich vor mit dem Sonnenschirm in der Hand und einem Jackett aus Silberbrokat, das über seine Schultern drapiert war wie ein Cape. Jean und Jabril teilten sich die vordere Ruderbank. Streva und Leutnant Delmastro befanden sich hinter ihnen, und ein sehr schmächtiger Matrose namens Vitorre – der fast noch ein Junge war – kauerte im Heck, um das Boot zu übernehmen, wenn sie die Fleute enterten. Das Schiff, dessen bauchiger Rumpf mit den nach oben stark zurückweichenden Bordseiten nun deutlich zu sehen war, fuhr zu ihrem Kurs in ungefähr nördlicher Richtung. Locke schätzte, dass sie den Kurs der Orchidee in ungefähr zehn Minuten kreuze n musste. »Lasst uns auf sie zupullen«, befahl Delmastro. »Mittlerweile rechnen sie damit.«
Ihre Boote hatten circa hundert Yards südöstlich der Orchidee gelauert. Als die vier Rudergasten in dem führenden Boot anfingen, nach Norden zu pullen, sah Locke, dass die anderen begriffen hatten, was los war, und ihnen folgten.
Sie hüpften und flogen über die fußhohen Wellen. Die Sonne stand bereits über der Kimm und erhitzte die Luft immer mehr; um halb acht hatten sie die Boote zu Wasser gelassen. Die Riemen knarrten rhythmisch in den Dollen; nun waren sie querab von der Orchidee, und die Fleute befand sich rund eine halbe Meile entfernt im Nordosten. Wenn man an Bord die Finte witterte und versuchte, nach Norden zu fliehen, würde die Orchidee jeden Fetzen Tuch setzen, um ihr hinterherzupreschen. Drehte die Fleute jedoch in Richtung Süden ab, mussten die Boote ihr den Weg versperren.
»Ravelle«, sagte Delmastro, »zu deinen Füßen, die Metallschere. Siehst du sie?« Locke blickte nach unten. Unter seiner Bank steckte ein hässliches, durch ein Gelenk verbundenes Gerät mit zwei hölzernen Griffen, die zwei metallische Klauen bewegten. »Ja.«
»Pfeile sind nicht unser größtes Problem. Das Schlimmste, was uns passieren kann, sind Klingennetze, die sie aufriggen, um die Bordwand zu schützen. Jeder, der versucht, an Deck zu klettern, wird in Stücke geschnitten. Wenn diese Netze ausgebracht sind, musst du mit dieser Schere eine Lücke für uns hineinschneiden.« »Selbst wenn es meinen Tod bedeutet«, schloss er. »Ich denke, ich habe kapiert.« »Aber das Aufriggen von Klingennetzen ist eine Tortur -das ist die gute Nachricht. Und sie werden sie wohl kaum ausbringen, wenn sie damit rechnen, Passagiere aufzunehmen und ihre eigenen Boote zu Wasser zu lassen. Wir müssen nur nahe genug herankommen, bevor wir uns zu erkennen geben, dann haben
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