Sturm ueber roten Wassern
unten eine eigene Gemeinschaft zu gründen, die sich selbst diese Regeln auferlegt hätte?« »Ah.« Zamira seufzte, setzte ihren viereckigen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch das vom Wind zerzauste Haar. »Unsere berüchtigte Verlorene Sache. Unser persönlicher Beitrag zu der glorreichen Geschichte von Tal Verrar.« »Warum haben Sie damit angefangen?«
»Es war eine Fehleinschätzung. Wir alle hatten gehofft … nun ja, Kapitän Bonaire war sehr überzeugend. Wir hatten eine Anführerin und einen Plan. Wir wollten Minen auf unbesiedelten Inseln eröffnen, in einigen Wäldern Holz schlagen und Harz gewinnen. Die Natur nach Herzenslust ausplündern, bis die anderen Mächte am Messing-Meer händeringend an den Verhandlungstisch gekommen wären, um sie dann mit autorisiertem Handel auszuquetschen. Wir stellten uns eine Art Freihandelszone vor, ein Gebiet ohne Zölle. Motierre und Port Prodigal sollten überquellen vor Händlern und ihren importierten Vermögen.« »Ein ehrgeiziges Ziel.«
»Ein idiotisches Ziel. Gerade hatte ich mich aus einer miesen Bindung gelöst, da stürzte ich mich auch schon in die nächste zweifelhafte Verpflichtung. Wir glaubten Bonaire, als sie sagte, Stragos hätte nicht die Autorität, um hier herunterzukommen und einen ernsthaften Kampf anzuzetteln.«
»Oh. Zur Hölle!«
»Es kam zu einer Konfrontation auf See. Das größte Gefecht, das ich je erlebt habe, und meines Wissens nach wurde noch kein Sieg so schnell errungen. Stragos hatte seine Schiffe mit hunderten von Verrari-Soldaten bemannt, die die Matrosen unterstützten; im Nahkampf hatten wir nicht die geringste Chance. Sobald sie die Leguan erobert hatten, machten sie keine Gefangenen mehr. Sie enterten ein Schiff, versenkten es und hetzten zum nächsten. Ihre Bogenschützen erschossen jeden, der im Wasser schwamm, jedenfalls bis die Teufelsfische auftauchten.
Ich wandte jeden Trick an, den ich kannte, nur um die Giftorchidee heil rauszubringen. Ein paar von uns schafften es, mit letzter Kraft, nach Prodigal zu flüchten. Und noch ehe wir dort ankamen, hatten die Verrari Montierre dem Erdboden gleichgemacht. Fünfhundert Tote an einem einzigen Morgen. Danach segelten sie nach Tal Verrar zurück, und ich kann mir vorstellen, dass der Sieg dort mächtig gefeiert wurde – mit Tanzen, Saufen, Huren und jeder Menge schöner Ansprachen.« »Ich glaube«, wandte Locke ein, »dass man einer Stadt wie Tal Verrar das Geld oder den Stolz nehmen kann – und mit einem bisschen Glück kommt man ungeschoren davon. Aber wehe, man nimmt ihr beides zugleich!«
»Du hast recht. Möglicherweise war Stragos mit wenig Macht ausgestattet, als Bonaire die Stadt verließ; und wir haben erst dafür gesorgt, dass sich die Schichten, die Tal Verrars Interessen vertreten, hinter ihn stellten. Wir hexten ihn herbei wie einen Dämon aus einem Märchen.« Sie verschränkte die Arme und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Heckreling stützend. »Also blieben wir Geächtete. Der GeisterwindArchipel erlebte keine Blüte. Port Prodigal war keine glänzende Zukunft beschieden. Dieses Schiff ist jetzt unsere ganze Welt, und ich bringe die Orchidee nur in den Hafen, wenn ihr Bauch zu voll ist, um noch auf Jagd gehen zu können.
Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt, Orrin? Ich bereue nicht, wie ich während der vergangenen Jahre gelebt habe. Ich segle, wohin ich will. Ich treffe keine Verabredungen. Ich respektiere keine Grenzen. Welcher König an Land ist so frei wie der Kapitän eines Schiffs? Das Messing-Meer bietet uns alles, was wir brauchen. Es sorgt für uns. Wenn ich es eilig habe, bekomme ich günstigen Wind. Wenn ich Gold benötige, schickt es mir eine Galeone vorbei.« Diebe sind gesegnet, dachte Locke. Die Reichen vergessen nicht. Er traf seine Entscheidung und klammerte sich an die Reling, um nicht zu zittern.
»Nur verdammte Idioten sterben für irgendwelche Linien, die auf Landkarten gezogen sind«, fuhr Zamira fort. »Aber niemand kann Linien um mein Schiff ziehen. Falls es einer versucht, setze ich nur mehr Segel und rausche einfach davon.«
»Sicher«, entgegnete Locke. »Aber … Zamira, was ist, wenn ich Ihnen sage, dass Sie das vielleicht schon sehr bald nicht mehr können?«
6
»Hast du tatsächlich mit Fässern geübt, Jerome?«
Aus einer der Kisten, die aufgebrochen zwischen den Feiernden standen, hatten sie sich eine Flasche mit Brandy aus Schwarzen Granatäpfeln gefischt und sie mit an ihren Platz neben der
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