Sturm ueber roten Wassern
in die Richtung, in der Locke und der Käpt’n standen, und im Nu waren sie durch den Niedergang abgetaucht. »Nanu«, staunte Zamira, »dein Freund muss ja noch außergewöhnlicher sein, als ich dachte, wenn er Del für sich gewinnen konnte – und sei es nur für eine Nacht.«
»Er ist ein außergewöhnlicher Mensch«, erwiderte Locke leise. »Immer wieder rettet er mir das Leben, selbst dann, wenn ich es gar nicht verdiene.« Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das wirbelnde, glühende, von einem Monster heimgesuchte Wasser am Heck der Orchidee. »Und ich verdiene es meistens nicht, dass er mir hilft.«
Zamira erwiderte nichts darauf, und nach einer Weile fuhr Locke fort: »Nun ja, nachdem Jerome mich heute früh schon wieder rausgehauen hatte, fuhrwerkte und hampelte ich bloß noch auf gut Glück herum. Das war alles. Mit Tüchtigkeit oder Leistung hatte das nicht das Geringste zu tun.«
»Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass du die Boote angeführt hast. Du bist als Erster die Fleute hochgeklettert, ohne zu wissen, was dich erwartet.« »Das war nur Theater, Zamira. Ich verstehe mich großartig aufs Theaterspielen. Als ich mich anbot, als Erster das Schiff zu entern, tat ich es nicht aus edlen Motiven. Mein Leben war nichts mehr wert, und ich konnte nur ein bisschen Respekt zurückgewinnen, indem ich etwas wirklich Verrücktes anstellte. Wenn ich heute früh gefasst und tapfer wirkte, so war das gespielt – nichts als Fassade.«
»Der Umstand, dass du das für so wichtig erachtest, dass du mit mir darüber sprechen musst, verrät mir nur, dass es tatsächlich dein erstes richtiges Gefecht war.« »Ich …«
»Ravelle, jeder, der ein Kommando übernimmt, spielt im Angesicht des Todes den Mutigen. Wir tun es für die Menschen, die uns in eine Schlacht folgen, und wir tun es für uns selbst. Wir müssen Todesverachtung heucheln, damit wir nicht heulend zusammenbrechen. Der Unterschied zwischen einem erprobten und einem unerfahrenen Anführer besteht darin, dass der Neuling überrascht ist, wie gut es ihm gelingt, den Furchtlosen zu mimen, wenn er dazu gezwungen wird.«
»Ich kann es nicht fassen.« Locke schüttelte den Kopf. »Anfangs, als ich gerade an Bord der Orchidee gekommen war, fanden Sie mich so uninteressant, dass Sie mir nicht mal ins Gesicht gespuckt hätten. Und auf einmal stärken Sie mir den Rücken. Zamira, Jerome und ich haben niemals für die Priori gearbeitet. Ich bin noch nie einem Priori begegnet, außer im Vorbeigehen. Die Wahrheit ist, dass wir immer noch für Maxilan Stragos tätig sind.«
»Was?«
»Jerome und ich sind Diebe. Berufsmäßige, unabhängige Diebe. Wir dienen niemandem. Wir kamen nach Tal Verrar, um dort einen äußerst heiklen Coup durchzuziehen, den wir uns ausgedacht hatten. Der … Geheimdienst des Archonten bekam heraus, wer und was wir sind. Stragos hat uns vergiftet … er richtete es so ein, dass wir unwissentlich ein schleichendes Gift zu uns nahmen, für das nur er ein Gegenmittel hat. Und solange wir für dieses Problem keine eigene Lösung gefunden haben, hat er uns in der Hand.«
»Was will Stragos denn damit bezwecken?«
»Stragos übergab uns die Roter Kurier, sorgte dafür, dass wir eine Besatzung vom Amwind-Felsen bekamen, und baute eine fiktive Gestalt namens Orrin Ravelle auf.
Ravelle existiert nur auf dem Papier, doch Stragos verteilte überall Spuren, die darauf hindeuten sollen, dass es diese Person tatsächlich gibt. Er stellte uns einen Segelmeister zur Seite – den Mann, dessen Herz versagte, kurz bevor wir in diesen fürchterlichen Sturm gerieten – und schickte uns mit einer Mission hierher. So gelangten wir an das Schiff. Es sollte aussehen, als hätten wir ihm eine lange Nase gedreht, aber es ist alles Bestandteil einer groß angelegten Intrige.«
»Was ist sein Ziel? Will er jemandem an den Kragen, der in Port Prodigal lebt und den er auf andere Weise nicht zu fassen kriegt?«
»Er will noch einmal das, was Sie ihm verschafften, als sich Ihre Wege das letzte Mal kreuzten. Die Priori betrachtet er als seine Widersacher, und er merkt, dass er älter wird. Wenn er seine frühere Popularität überhaupt noch einmal zurückgewinnen will, dann ist der Zeitpunkt jetzt gekommen. Er braucht einen Gegner außerhalb der Stadt, damit er seine Armee und seine Marine wieder ins Spiel bringen kann. Und sein liebster Feind sind Sie, Zamira. Nichts käme Stragos mehr gelegen als ein erneutes Aufblühen der Piraterie. Wenn in
Weitere Kostenlose Bücher