Sturm ueber roten Wassern
vertreiben?«
»Versuchen könnte man es. Aber dazu müsste man sicher sein, dass dieses Ding nicht schneller schwimmen kann als jetzt.«
»Ich verstehe.«
»Wenn man anfängt, auf all die sonderbaren Kreaturen, die man hier draußen sieht, zu schießen, dann gehen einem bald die Pfeile aus, ohne dass man auch nur das Geringste bezweckt.« Sie seufzte und blickte in die Runde, um sich zu überzeugen, dass sie einigermaßen allein waren. Der Matrose, der ihnen am nächsten stand, war der Rudergänger am Steuer, acht bis neun Yards weiter vorn. »Du hast dich heute sehr nützlich gemacht, Ravelle.«
»Tja, blieb mir denn was anderes übrig?«
»Ich dachte, ich würde Beihilfe zum Selbstmord leisten, als ich dich die Boote anführen ließ.«
»Das ist von der Wahrheit gar nicht mal so weit entfernt, Käpt’n. Während des gesamten Kampfes war ich ständig nur um Haaresbreite vom Tod entfernt. Ich erinnere mich nicht mal an die Hälfte von dem, was passierte. Die Götter waren mir wohlgesinnt, als sie mir die Schande ersparten, mir in die Hosen zu machen. Aber bestimmt wissen Sie, wie es einem in einem Gefecht ergeht.«
»Allerdings. Doch ich weiß auch, dass nicht alles auf Zufall beruht. Du und Meister Valora, ihr habt … mit eurer Kampfkraft für eine Menge Aufsehen gesorgt. Für einen ehemaligen Meister der Maße und Gewichte besitzt du ungewöhnliche Talente.«
»Sich mit Maßen und Gewichten zu beschäftigen ist eine äußerst langweilige Tätigkeit, Käpt’n. Da sucht man sich schnell ein Hobby.«
»Die Leute des Archonten haben dich doch nicht angeheuert, ohne Kenntnisse von deinen Fähigkeiten zu haben, oder?«
»Was?«
»Ich hatte doch bereits angekündigt, dass ich diese sonderbare Frucht, die du als deine persönliche Geschichte ausgibst, schälen würde, Ravelle. Mein erster Eindruck von dir fiel beileibe nicht günstig aus. Aber du hast dich … bewährt. Und ich glaube, ich fange an zu verstehen, wie du deine alte Mannschaft trotz deiner Ignoranz beeindrucken konntest. Du scheinst eine echte Begabung zu haben, Lügen zu verkaufen.«
»Gewichte und Maße sind sehr, sehr langweilig …«
»Du bist also ein Meister in einem sitzenden Beruf, ein Sesselfurzer, der rein zufällig das Talent zum Spion hat? Das Talent, sich zu verkleiden? Das Talent, ein Kommando zu führen? Ganz zu schweigen von deinem geschickten Umgang mit Waffen, was übrigens auch für deinen engen und ungewöhnlich gebildeten Freund Jerome gilt …«
»Unsere Mütter waren sehr stolz auf uns.«
»Der Archont hat euch nicht von den Priori abgeworben«, schlussfolgerte sie. »Ihr wart Doppelagenten. Eingeschleuste Provokateure, die in den Dienst des Archonten treten sollten. Ihr habt das Schiff nicht wegen einer Beleidigung gestohlen, über die du dich nicht auslassen willst; ihr habt es gekapert, weil euer Befehl lautete, die Glaubwürdigkeit des Archonten zu beschädigen … etwas wirklich Aufsehenerregendes durchzuziehen.«
»Äh …«
»Bitte, Ravelle. Eine andere vernünftige Erklärung gibt es nicht.«
Götter, was für eine Versuchung, schoss es Locke durch den Kopf. Das ist die beste Chance, sie in ihrer eigenen Fehlinterpretation zu bestärken. Er starrte in das schillernde Wasser, in dem immer noch dieses mysteriöse Wesen schwamm. Was sollte er tun? Die Gelegenheit ergreifen und Drakasha gegenüber andeuten, sie hätte Ravelles und Valoras Rollen klug durchschaut? Ihr zu sagen, dass sie mit ihrer Vermutung recht hätte?
Oder … seine Wangen brannten, als er sich an Jeans bitteren Vorwurf erinnerte. Jean hatte ihn nicht nur aus religiösen Gründen kritisiert oder weil er sein Herz für Delmastro entdeckt hatte. Es war eine Frage der Auffassung, der inneren Einstellung.
Wie sollte er sich verhalten, um am besten ans Ziel zu gelangen?
Sollte er diese Frau nach Strich und Faden für sein eigenes Vorhaben ausnutzen, oder sie als Verbündete behandeln?
Die Zeit lief ihm davon. Dieses Gespräch brachte ihn an einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen musste. Er konnte sich entweder auf seine Instinkte verlassen und Drakasha für seine persönlichen Zwecke benutzen, oder Jeans Rat befolgen und … versuchen, ihr zu vertrauen. Fieberhaft dachte er nach. Seine eigenen Instinkte – waren sie immer unfehlbar? Auf Jeans Intuition hingegen konnte er sich meistens verlassen; abgesehen von ihren Streitereien – hatte Jean je etwas anderes getan, als ihn zu beschützen?
»Erzählen Sie mir etwas«, erwiderte er
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