Sturm ueber roten Wassern
gedehnt, »während ich mir eine Antwort überlege.«
»Vielleicht tue ich das sogar.«
»Während wir hier stehen und uns unterhalten, werden wir vermutlich von einem Wesen beobachtet, das halb so groß ist wie das Schiff.«
»Ja.«
»Wie halten Sie das nur aus?«
»Wenn man solche Sachen oft genug zu sehen bekommt, gewöhnt man sich daran …«
»Nicht nur das. Alles. In meinem ganzen Leben war ich insgesamt höchstens sechs, sieben Wochen lang auf See. Wie lange sind Sie schon hier draußen?«
Sie starrte ihn an, ohne etwas zu erwidern.
»Es gibt ein paar Dinge über mich«, fuhr Locke fort, »die ich Ihnen niemals erzählen würde, einfach weil Sie der Kapitän dieses Schiffs sind, selbst wenn Sie mir androhten, mich wieder in die Last zu sperren oder mich über Bord zu werfen. Bevor ich Ihnen bestimmte Einzelheiten anvertraue, muss ich wissen, mit wem ich spreche. Ich möchte mit Zamira reden, nicht mit Kapitän Drakasha.«
Sie sagte immer noch nichts.
»Ist das zu viel verlangt?«
»Ich bin neununddreißig Jahre alt«, entgegnete sie nach einer Weile mit sehr ruhiger Stimme. »Das erste Mal bin ich auf einem Schiff gesegelt, da war ich elf.«
»Dann fahren Sie also seit fast dreißig Jahren zur See. Wie ich schon sagte, bin ich erst seit wenigen Wochen hier draußen. Aber was habe ich in dieser verdammt kurzen Zeit nicht alles erlebt – Stürme, eine Meuterei, Seekrankheit, Kämpfe, Flattergeister … hungrige Kreaturen, die überall lauern und nur darauf warten, dass jemand einen Zeh ins Wasser steckt. Es ist ja nicht so, als hätte ich mich in dieser Zeit überhaupt nicht wohlgefühlt; gelegentlich fühlte ich mich sogar sehr gut. Ich habe eine Menge gelernt.
Aber … dreißig Jahre? Und Ihre Kinder nehmen Sie auch noch mit? Finden Sie das nicht ein bisschen … riskant?«
»Hast du Kinder, Orrin?«
»Nein.«
»In dem Augenblick, in dem ich merke, dass du versuchst, mir Ratschläge bezüglich meiner Kinder zu erteilen, fliegst du über diese Reling, um Bekanntschaft mit dem zu machen, was da unten lauert.«
»So war das doch gar nicht gemeint. Ich wollte nur …«
»Haben die Leute, die dauernd an Land wohnen, das Geheimnis des ewigen Lebens ergründet? Können sie sich vor Unfällen schützen? Haben sie während meiner Zeit das Wetter abgeschafft?«
»Natürlich nicht.«
»Sind meine Kinder gefährdeter als irgendein unglücklicher Kerl, der rekrutiert wurde, um in den Kriegen seines Herzogs zu kämpfen? Sind sie ärmer dran als die Sprösslinge einer mittellosen Familie, wenn die Eltern an einer Seuche sterben und ihr Stadtviertel unter Quarantäne gestellt oder niedergebrannt wird? Kriege, Seuchen, Steuern. Den Kopf einziehen und Stiefel küssen. Auch an Land pirschen jede Menge hungriger Kreaturen herum, Orrin. Mit dem Unterschied, dass die Bestien, die das Meer unsicher machen, im Allgemeinen keine Kronen tragen.« »Ah …«
»War dein Leben ein Paradies, bevor du anfingst, über das Messing-Meer zu segeln?« »Nein.«
»Natürlich nicht. Und jetzt hör mir mal gut zu: Ich dachte, ich sei in einer Hierarchie groß geworden, in der Tüchtigkeit und Loyalität genügten, um einem eine gewisse Stellung im Leben zu garantieren. Ich schwor einen Diensteid, in der Annahme, er sei für beide Parteien bindend. Ich war naiv . Und ich musste furchtbar viele Männer und Frauen töten, um den Konsequenzen meiner Naivität zu entgehen. Verlangst du wirklich von mir, dass ich Paolo und Cosetta demselben Dreck aussetze, der mich um ein Haar umgebracht hätte? Welchen Gesetzen sollte ich mich beugen, Orr in? Welcher König, welcher Herzog oder welche Kaiserin würden so gut auf meine Kinder achtgeben wie ich, ihre Mutter? Wem würden sie so am Herzen liegen wie mir? Kannst du mir einen Namen nennen oder mir einen Empfehlungsbrief schreiben?« »Zamira«, entgegnete Locke, »bitte, machen Sie mich nicht zu einem Advokaten für Dinge, von denen ich nichts verstehe.
Mir scheint, ich habe mein gesamtes Leben unter der Fuchtel irgendeines Tyrannen verbracht. Halten Sie mich für einen Mann, der dafür ist, dass die Menschen mit eiserner Faust regiert werden?« »Ehrlich gesagt, nein.«
»Ich bin neugierig, weiter nichts. Und ich lasse mich gern von Ihnen belehren. Und jetzt erzählen Sie mir bitte etwas über die Freie Armada. Was hatte es mit dem sogenannten Anerkennungskrieg auf sich? Warum dieser Hass auf … Gesetze, Steuern und andere einengende Maßnahmen, wenn Sie doch darum kämpften, hier
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