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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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würde. Die Marineflugstation schickte einen Flieger nach dem anderen hoch, weil der Marinekommandant damit rechnete, dass die englische Flotte eine Fernblockade der deutschen Bucht plante. Diese Sorge war nicht neu, deshalb waren schon vor dem Krieg in List und auch in Tondern, auf Norderney, Helgoland und Borkum, in Wilhelmshaven und Tönning Seeflugstationen und -stützpunkte entstanden. Zum Vorkommando der Marineflieger, das direkt nach Ausbruch des Krieges in List eingetroffen war, waren mittlerweile zahlreiche weitere Seeflugzeuge hinzugekommen. List war ein idealer Standort. Die Lage an der deutschen Nordflanke und die natürlichen Voraussetzungen hatten dazu geführt, dass die Marineflugstation nicht in Westerland, wie es zunächst beabsichtigt gewesen war, sondern in List errichtet wurde. Dort war man vor dem offenen Seegang geschützt und unabhängig von den Gezeiten. Da die Vorarbeiten für eine Dammverbindung zwischen Insel und Festland bei Ausbruch des Krieges bereits im Gange waren, hatte man auch an eine gesicherte Versorgung der Garnison geglaubt. Dass der Damm nicht mehr fertig geworden war, konnte zu Problemen führen, wenn der Krieg länger dauern sollte, als man glaubte und hoffte.
    Die Soldaten der Inselwache, die unter dem eintönigen Wachdienst litten, schauten oft neidisch zum Himmel, wenn wieder mal ein Wasserflugzeug zu einem Erkundungsflug startete oder von See zurückkehrte. Aletta lauschte auf das Dröhnen der Motoren, während sie im Bett lag, und versuchte, die Stimmen vor dem Haus nicht zur Kenntnis zu nehmen. Hoch über den Wolken! Die Sehnsucht, über den Dingen zu schweben und sich aus der Realität zu entfernen, war während dieser Tage gewaltig.
    Dr. Peters erschien noch zweimal an ihrem Bett, jedes Mal hatte er auf die Begleitung seiner Frau verzichtet. Und jedes Mal war er sehr freundlich und hilfsbereit, als wollte er die Anzüglichkeiten seiner Frau ausgleichen.
    »Sie sind wieder gesund«, sagte er, als er sich zum letzten Mal verabschiedete. »Jedenfalls körperlich. Nur ein wenig Schonung wäre noch angebracht.« Er sah Aletta forschend an. »Ob Sie seelisch schon wieder genesen sind, kann ich nicht beurteilen.«
    Aber Aletta versicherte: »Es ist gut.« Und damit gab Ocke Peters sich zufrieden.
    Als sie zum ersten Mal aufstand, um in die Küche hinunterzugehen, glaubte sie sich leichter zu fühlen, so, als hätte sie vorher bereits schwer an ihrem Kind zu tragen gehabt. Gab es ein Bedauern in ihr, eine Traurigkeit um etwas, was nie wiederkehren konnte? Nein, Aletta spürte nichts dergleichen. Der Trauer um Ludwig konnte nichts gleichkommen, nichts konnte sie überragen. Als sie auf die Küchentür zuging, war sie froh, dass Insa schweigen und nicht nach einem göttlichen Sinn fragen würde, wie andere Frauen es gern taten, die sich oft schon von den Fragen begütigen ließen und am Ende die Antworten nicht mehr brauchten, um getröstet zu sein.
    Die Leichtigkeit, die Aletta empfand, diese Erlösung, wenn sie auch die Hand nach der Trostlosigkeit ausstreckte, war ihr Beweis genug, dass es richtig gewesen war, sich gegen ein Kind zu entscheiden, das Ludwig nicht hatte haben wollen. Es wäre unrecht gewesen, ihm die Vaterschaft post mortem aufzuzwingen, genauso unrecht wäre es gewesen, ihn nach seiner Rückkehr aus dem Krieg damit zu überfallen. Er hätte sich betrogen gefühlt, hätte dem Frieden nicht trauen können, wenn er, statt heimzukehren, in einen neuen Konflikt gekommen wäre. Sie wusste, dass es unzählige Argumente gab, die genau das Gegenteil belegten, aber sie ließ sich auf Begriffe wie Vernunft, Moral oder gar Mutterliebe nicht ein. Es mussten auch andere Begriffe gelten, die nicht so wohlklingende Namen hatten. Scharfblick undEinsicht zum Beispiel. Ludwig hätte die Entscheidung für oder gegen ein Kind mit dem Kopf getroffen, nicht mit dem Herzen. Und so wollte sie es auch tun.
    Noch bevor Aletta die Küche betrat, fasste sie den Entschluss, nicht mehr von Ludwig zu reden und auch sein Kind dem Schweigen zu überliefern. Beide trug sie in sich, dort war Ludwigs Platz, und dort wollte sie auch einen Platz für das Ungeborene einrichten, was niemand verstehen würde, der wusste, was sie getan hätte, wenn Hauptmann Kalkhoff nicht Schicksal gespielt hätte. Ihr war, als würde mit jedem, der Ludwigs Namen nannte, etwas von ihm aus ihr herausgesprochen, was ihr danach fehlte. Nun würde es möglich sein, beide in sich zu tragen, jeder ein Opfer und sich

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