Sturm über Sylt
deswegen gleich. Ludwig ein Opfer seines Mutes, mit dem er Gräueltaten hatte verhindern wollen, sein Kind ein Opfer ihrer Liebe. Ludwig hatte sein Leben umsonst gegeben, hatte damit kein anderes Leben retten können, sein Kind aber hatte das Leben hingegeben, um ihre Liebe zu retten. Diese Liebe über den Tod hinaus. Diese Liebe, deren Namen nicht mehr genannt werden sollte. Ludwig würde Teil ihrer Gedanken sein, aber nicht ihrer Worte. Auf die Namen von Ausländern wurde in diesen Wochen sowieso nicht freundlich reagiert. Aletta war erleichtert, dass sie einen Weg gefunden hatte, auf dem ihr kein verächtliches Wort begegnen würde.
Insa begriff sofort, worum es ihr ging. Sie erwähnte Ludwig kein einziges Mal und die Fehlgeburt ebenso wenig. Auch als Frauke Lützen ins Haus kam, wurde nicht darüber gesprochen, dass Aletta drauf und dran gewesen war, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Frauke kam nun häufiger, und jedes Mal hatte sie eine große Tasche bei sich, die sie neben ihren Küchenstuhl stellte und stets gut verschlossen hielt. Angeblich trug sie die Näharbeiten ihrer Kundschaft aus, und auf die Frage, warum sie alle paar Tage zu Besuch kam, antwortete Insa gereizt: »Muss ich mich dafür rechtfertigen?« Die Abneigung sprühte aus ihren Augen, während sie hervorstieß: »Du bist auf Sylt nur zu Gast, vergissdas nicht! Dass dir die Hälfte dieses Hauses gehört, ändert nichts daran.«
Es war, als hätte es nie eine tröstende Umarmung gegeben, als hätte Aletta nie Insas weichen Körper und nie ihre Lippen auf ihrem Haar gespürt und als hätte es nie die Nacht gegeben, in der sie ihre Schwester aus den Händen von Hauptmann Kalkhoff befreit hatte. Und dass Insa den Hauptmann beschuldigt hatte, ihrer Schwester Gewalt antun zu wollen, statt von einem Angriff auf sich selbst zu reden, sollte auch vergessen werden. Insa winkte immer wieder ärgerlich ab, wenn Aletta sie darauf ansprach. »Das war ganz intuitiv«, behauptete sie. »Wer hätte schon geglaubt, dass jemand eine Frau in meinem Alter vergewaltigen will? Ich bin über vierzig!«
Jorit und Reik hatten Insa und Aletta angefleht, diesen Vorfall anzuzeigen, aber Insa hatte es strikt abgelehnt, was für Aletta nicht überraschend gekommen war. »Man würde uns sowieso nicht glauben«, behauptete Insa. »Wir können es nicht beweisen.«
Aletta wusste, dass Kalkhoff sich Hauptmann Hütten und Leutnant Fritz gegenüber bereits erfolgreich herausgeredet hatte. Angeblich konnte er sich nicht erinnern, sei nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen, habe einfach zu viel Alkohol getrunken. Aber natürlich habe er niemandem Gewalt antun wollen, so etwas komme für ihn nicht in Frage. Und überhaupt hätten die Damen ein bisschen übertrieben. Dass Aletta Lornsen in jener Nacht eine Fehlgeburt erlitten habe, tue ihm zwar leid, aber er habe damit nichts zu tun. Hütten und Fritz hatten ihm geglaubt.
Aletta musste ihrer Schwester recht geben: Sie hatten keine Beweise, es stand Aussage gegen Aussage. Und auf wessen Seite sich der Inselkommandant stellen würde, lag auf der Hand. Schließlich sahen auch Jorit und Reik es ein, und Insa atmete erleichtert auf. Womit der Hauptmann sie in der Hand hatte, was er verraten wollte, wenn Insa sich ihm widersetzte, blieb im Verborgenen. Alettas Frage hatte Insa brüsk zurückgewiesen. »Du hast dich verhört, so was hat er nie gesagt.«
Die Frage, wie Insa sich vor weiteren Übergriffen schützen wolle, hatte Aletta gar nicht erst gestellt.
Natürlich war auch der Pfarrer gekommen, jeden Tag, an einigen Tagen zweimal. Er schien zu ahnen, dass es um Alettas Fehlgeburt ein Geheimnis gab, fragte aber nicht, weil er sicher war, keine ehrliche Antwort zu bekommen. Doch er wurde wachsamer in diesen Tagen, sein Blick ruhte nicht mehr auf den beiden Schwestern, er huschte flink zwischen ihnen hin und her, als wollte er etwas einfangen, was unausgesprochen zwischen Aletta und Insa stand. Ob er etwas fand, blieb unklar, aber dass er weiterhin suchen würde, war gewiss.
Es waren merkwürdige Tage, diese Zeit ihrer Genesung, die Aletta wie Stillstand erschien, als dümpelte ihr Leben auf Sylt in einer Flaute und käme nicht mehr voran. Sie segelte nicht mehr auf die Zukunft zu, wusste nicht einmal mehr, wo sie lag, ihre Zukunft, in der es Ludwig nicht geben würde. Sie starrte über die Reling ihres Lebens und ließ geschehen, was geschah, sich an irgendein Ufer spülen oder erneut vom Wind erfassen.
Über der Insel stand nach wie
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