Sturm über Sylt
vor die Angst vor dem Krieg, der woanders längst tobte. Auf Sylt zeigte er sich jedoch noch immer nicht. Insa war zur Tagesordnung übergegangen, aber wie die Ordnung aussah, wusste nur sie selbst. Frauke Lützen erschien und ging wieder, ohne dass sich etwas veränderte, Hauptmann Kalkhoff blickte häufig über den Zaun und verlangsamte seinen Schritt, wenn er am Haus vorbeiging, aber er schien den Mut für weitere Angriffe verloren zu haben. Jorit kam häufig auf einen kurzen Besuch vorbei, war aber so unfähig wie Aletta selbst, ein Segel zu setzen, dem Leben eine Richtung zu geben und Fahrt aufzunehmen. Nur Reik gab einen Kurs vor, wenn er erschien, um Aletta Noten zu bringen, die er irgendwo aufgetrieben hatte, und mit ihr das Repertoire für ihr Konzert zu besprechen. Und dann brachte die Familie Mügge Bewegung in Alettas Leben, ohne es zu ahnen ...
Das war, als Jorit wieder einmal nach dem Dienst zu denLornsens gekommen war, um nach Aletta zu sehen. »Dem kleinen Mügge geht es schlecht«, wusste er zu berichten. »Er hat Gelbsucht! Seine Mutter hat meinen Schwiegervater geholt, weil ihr das Geld für einen Arztbesuch fehlt. Es tut mir so leid für Frau Mügge. Der Mann im Krieg und der kleine Sohn in Lebensgefahr ...«
Mit der Flaute war es schlagartig vorbei. Das Ruder ihres Lebens wurde herumgerissen. Und das noch einmal, als Aletta zufällig aus dem Fenster blickte und Maike Peters am Haus vorbeigehen sah.
»Deine Schwiegermutter weiß, dass du hier bist«, flüsterte sie und zeigte auf das Fahrrad, das Jorit am Zaun abgestellt hatte.
Jorit versuchte, sorglos auszusehen. »Na, und? Wir tun nichts Verbotenes.«
»Darauf kommt es nicht an«, antwortete Aletta. »Wenn deine Schwiegermutter glaubt, dass wir etwas Verbotenes tun, wird es schwer sein, sie vom Gegenteil zu überzeugen.« Und hastig ergänzte sie: »Versuch es um Himmels willen nicht! Damit machst du dich erst recht verdächtig!«
Dass sie ihn nicht erreichte, dass er ihr nicht glaubte, dass er sich selbst für einen guten Taktiker hielt, erkannte sie daran, dass er schleunigst das Thema wechselte. »Meine Schwiegermutter hat mir von diesem Hamburger Dirigenten erzählt, der trotz des Krieges die Madame Butterfly auf die Bühne bringen will.«
»Anton Heussner.«
»Sie behauptet, Oberst von Rode wolle dafür sorgen, dass du die Hauptrolle singst. Anscheinend ist dieser Dirigent ...«
»Anton Heussner.«
»Ja, dieser Anton Heussner ist nicht zufrieden mit der Sängerin, die statt deiner die Rolle singt.«
»Du meinst, deine Schwiegermutter möchte, dass ich die Rolle singe, so wie es ursprünglich geplant war? Damit ich von Sylt verschwinde?«
Jorit sah sie erschrocken an. Und nun schien er sogar selbst zuerkennen, dass er nicht der große Taktiker war, für den er sich selbst gehalten hatte. »Du meinst ...«
Sie sorgte dafür, dass er es nicht aussprach. »Anton Heussner muss ohne mich zurechtkommen. Ich werde auf Sylt bleiben, bis der Krieg vorbei ist. Und vor allem ... bis ich dem Geheimnis meiner Mutter auf die Spur gekommen bin.«
»Wenn du gehst, gehe ich mit. Noch einmal lasse ich dich nicht ziehen.« Erschrocken starrte er sie an, als wäre ihm jetzt erst klar, was er gesagt hatte.
»Das geht heute noch weniger als vor zehn Jahren«, antwortete Aletta ganz ruhig. »Es ist Krieg. Du willst doch nicht etwa desertieren?«
»Vor zehn Jahren wäre es gegangen.«
Sie berührte mit einer zärtlichen Geste seinen Arm. »Lass es gut sein, Jorit. Ich weiß, ich habe mich damals schäbig benommen.«
»Das habe ich dir verziehen. Aber ... du tust es nie wieder?«
»Heimlich weggehen? Meinst du das?«
Er nickte, trotzdem kam es Aletta so vor, als meine er auch etwas anderes. »Es war die schwerste Demütigung meines Lebens.«
Sie war überrascht und sehr betroffen. Von Trauer hätte sie gesprochen, Enttäuschung und Verzweiflung, aber Demütigung? »Ich werde es nie wieder tun. Versprochen!«
Sie erhoben sich gleichzeitig, jeder wollte in eine andere Richtung fliehen, dieses Gespräch hinter sich lassen und tun, als hätte es Jorits Worte nie gegeben. Aber sie blieben stehen, alle beide, auf den Fleck gebannt, und sahen sich in die Augen.
»Ach, Aletta«, flüsterte Jorit und streichelte sanft ihre Wange.
Dann hatte er es plötzlich eilig, verabschiedete sich hastig und radelte nach Hause. Aletta sah ihm durchs Fenster nach, auch noch, als er längst um die Ecke verschwunden war. Über seine letzten Worte wollte sie nicht
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