Sturm über Sylt
damit?«
»Wir müssen auf ihn aufpassen«, erklärte Frauke. »Nicht, dass er durchdreht und wegläuft!«
Aber Insa teilte ihre Sorge nicht. »Er weiß, dass Soldaten hier wohnen und dass er keinen Schritt ins Innere des Hauses setzen darf. Er ist zwar nicht besonders helle, aber dieses Risiko wird er nicht eingehen.«
»Gefangene, die so einen Koller kriegen, haben nur noch einen Gedanken: raus!«
»Er kann das Dachfenster geöffnet halten. Dann spürt er die Luft, er riecht sie und hört Stimmen. Vor allem das Schreien der Möwen.«
Doch Frauke blieb sorgenvoll. »Er hat immer im Freien gearbeitet. Wenn Dirk Stobart ihn verdonnerte, mal zwei Stunden im Kontor die Rechnungen zu sortieren, hat er es nicht ausgehalten.«
»Weil er mit dem Sortieren von Rechnungen nicht klarkommt«, gab Insa zurück. »Nur deswegen!«
»Ich weiß nicht ...« Frauke blieb skeptisch. »Gerade war er so nervös. So ruhelos.«
»Weil gestern Aletta auf dem Speicher aufgetaucht ist«, beruhigte Insa sie. »Das hat ihn verunsichert. Aber nun haben wir ihm ja erklärt, dass er sich keine Sorgen machen muss.«
Aletta wollte unbedingt Teil dieser verschworenen Gemeinschaft sein und rückte ihren Stuhl noch näher an den Tisch heran. »Er muss die Zeit da oben nutzen. Er sollte etwas lernen. Das hilft ihm. Dann vergeht die Zeit schneller.«
»Ich habe ihm was zu lesen gebracht«, sagte Insa. »Aber er tut sich schwer mit dem Lesen.«
Sie goss neuen Tee auf, Aletta starrte in den aufsteigenden Wrasen, bis Insa ihn mit dem Aufsetzen des Deckels abschnitt. »Nun sind wir zu dritt«, sagte sie leise. »Dass bloß kein Weiterer etwas von Sönke erfährt! Je mehr Leute Bescheid wissen, desto größer ist die Gefahr, dass etwas durchsickert.«
Aletta wollte ihr eifrig zustimmen, weil Zustimmung die Reaktion war, die am besten zu diesem Bündnis passte, das sie nun fest mit Insa verband. Doch bevor sie ihre Worte bestätigen konnte, fiel ihr Jorit ein. Er war zum Mitwisser geworden! Nicht, weil auf Alettas Verschwiegenheit kein Verlass war, sondern weil Jorit mit Aletta zusammen im Gartenhäuschen das verschwörerische Treffen von Insa und Frauke belauscht hatte. Und weil er gehört hatte, wie Frauke Druck auf Insa ausübte. Aber das konnte sie ihrer Schwester unmöglich gestehen. Dass sie sich mit Jorit heimlich getroffen hatte, um mit ihm über das Tagebuch ihrer Mutter zu reden ... wie sollte sie Insa das erklären? Zugeben, dass sie immer noch dem Geheimnis der Mutter nachjagte? Heimlich? Nein, das würde Insa ihr nicht verzeihen.
Plötzlich wurde ihr der Hals eng, und sie musste kräftig schlucken, um die Angst zu überwinden, dass die wunderbare Einigkeit mit Insa bereits wieder in Gefahr war. Sie hatte Heimlichkeiten vor ihrer Schwester, so wie diese Heimlichkeiten vor ihr hatte, sie belogen sich, sie täuschten sich gegenseitig! Und trotzdem glaubte Aletta, dass die momentane Verbundenheit etwas sein könnte, was ihr Verhältnis von Grund auf verbesserte? Die Euphorie verflog, als hätte jemand das Fenster geöffnet und das schöne, leichte Gefühl wäre wie eine Feder nach draußen gezerrt worden.
Sie erhob sich und band ihre Schürze ab. »Ich brauche frische Luft. Ich war heute auch noch nicht am Rathaus, um nach den Bekanntmachungen zu sehen.«
»Aber komm zurück, ehe es dunkel wird«, rief Insa ihr nach.
Aletta blieb, mit dem Rücken an die geschlossene Haustür gelehnt, noch eine Weile stehen, ehe sie in den Vorgarten trat. Kurz vorher noch hätte sie Insas Sorge genossen, aber nun war ihr, als hätte sie etwas bekommen, was ihr nicht zustand, etwas, was sie sich ergaunert hatte.
Aletta brauchte eine Weile, bis sie die Stimme und den missbilligenden Blick von Tommas Mutter abgeschüttelt hatte. Sie littunter ihrem Vorwurf, während sie die Wilhelmstraße zurückging, er tat besonders weh, weil sie sich unter Maike Peters’ Verdacht ungerecht behandelt fühlte und seit Jorits Geständnis gleichzeitig schuldig. Der Wunsch, Tommas Mutter ihre Sorgen zu nehmen und ihr zu versichern, dass ihrer Tochter nichts genommen werden sollte, drückte sie nieder, als sie in die Stephanstraße zurückkehrte, die Hilflosigkeit trieb ihr Tränen in die Augen. Aber dann sah sie die geschlossene Kutsche, die ihr entgegenkam, und eine Sorge verjagte die andere.
Dirk Stobart saß auf dem Bock, er hatte das Tempo gedrosselt. Der Wagen bewegte sich langsam und würdevoll auf das Trauerhaus zu. Wenn Dirk mit diesem Wagen durch Westerland fuhr,
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