Sturm über Sylt
Kriegsmonate und Schicksalsschläge daran nichts geändert hatten, wurde ihr klar, als sie in die Gesichter von Reik und Robert Fritz sah, nachdem sie »Guten Abend, gut’ Nacht« gesungen hatte. »Schau im Traum ’s Paradies ...«
Als Aletta die Augen wieder öffnete, sah sie, dass nun auch Hauptmann Hütten zu ihrem Publikum gehörte. Er, der nochnie ein Konzert besucht und nur verächtlich reagiert hatte, wenn Leutnant Fritz ihn an seinem Kunstverständnis teilhaben lassen wollte, saß da wie verzaubert. In seinen Augen stand etwas, was Aletta noch nie dort gesehen hatte. Und sie nahm an, dass es an diesem Tag zum ersten Mal entdeckt worden war. Hauptmann Hütten würde nie wieder spöttisch lachen, wenn Leutnant Fritz ihm versicherte, dass Aletta Lornsen die Marzelline in »Fidelio« besser gesungen habe als jede Sopranistin zuvor.
Dem Applaus von drei Menschen fehlte zwar das gewaltige Rauschen, das im Beifall eines großen Publikums entsteht, aber es machte Aletta nicht weniger froh. Und die Freude auf das Konzert, so stümperhaft es auch organisiert sein würde und so wenig es den äußeren Voraussetzungen entsprach, die bisher für sie selbstverständlich gewesen waren, füllte sie ganz und gar aus. Für ein paar Augenblicke war ihr altes Leben zu ihr zurückgekehrt. Sie hatte es mit offenen Armen empfangen, obwohl sie wusste, dass es nicht bei ihr bleiben würde. Aber darauf kam es in diesem Moment nicht an. Nur das Glück, zu singen, zählte.
»Ich hoffe, der Pianist versteht sein Handwerk wirklich«, sagte sie, weil die Bewunderung von Reik und Robert Fritz so schwer wog, dass sie etwas Leichtes beisteuern wollte.
Nachdem Fritz und Hütten sie mit vielen Komplimenten verlassen hatten, trat Aletta ans Fenster. Dass es im Garten einen weiteren Zuhörer gegeben hatte, bemerkte sie erst, als sich eine Gestalt aus den Büschen löste und sich davonmachte. Frauke Lützen, die wieder ihre große Tasche mit sich trug!
Aletta spürte das dringende Verlangen, ihr zu sagen, dass sie nun zu den Eingeweihten gehörte, dass sie nicht mehr nur die Sängerin Aletta Lornsen war, sondern vor allem die Schwester von Insa Lornsen, von der sie ins Vertrauen gezogen worden war. Warum? Weil sie ihre nächste Angehörige war und weil sie von ihr geliebt und geachtet wurde! Der Wunsch, alle ungeklärten Fragen, alle Unwahrheiten aus ihrem Leben zu verbannen, wuchs heran. Sie hätte etwas darum gegeben, die Vergangenheitins Licht zu ziehen, wo jedermann sie von allen Seiten betrachten konnte und wo ein Weg direkt aus diesem Licht in die Gegenwart führte, der keine Abzweigung besaß, die in die Irre führte.
»Morgen können wir im ›Grand Hotel‹ die Generalprobe machen«, sagte Reik in ihre Gedanken hinein. »Anschließend wird das Klavier ins Klappholttal befördert. Jorit Lauritzen hat von Oberst von Rode den Auftrag bekommen, sich darum zu kümmern. Schließlich ist er selber Hotelier und kennt den Besitzer des ›Grand Hotels‹ gut.«
Eine halbe Stunde später schien das Haus leer zu sein. Reik hatte seinen Dienst antreten müssen, Hauptmann Hütten und Leutnant Fritz waren längst aufgebrochen. Aletta wusste, dass Insa im Hause war und vermutlich auch Frauke Lützen, aber zu hören war keine der beiden. Die Küche war leer, im Hause war alles still. Vermutlich waren sie auf dem Dachboden bei Sönke.
Kurz darauf bekam sie es bestätigt, als plötzlich Schritte von oben zu hören waren, die aus dem Nichts zu kommen schienen, die in keinem Zimmer entstanden waren. Sie setzten ein geräuschloses Schleichen fort, das direkt hinter der Tür zum Speicher zu Schritten wurde, die nun gehört werden durften.
Als Frauke und Insa zu ihr in die Küche kamen, sah sie ihnen erwartungsvoll entgegen, und tatsächlich machte Insa ihr das erste große Geschenk ihres Lebens. »Ich habe Frauke gesagt, dass du nun Bescheid weißt.«
Frauke Lützen schien das Vertrauen, das Insa in ihre Schwester gesetzt hatte, kleiner reden zu wollen. »Dafür hat Sönke selber gesorgt. Der dumme Junge!«
Aber Insa ließ nicht zu, dass das geschenkte Vertrauen weniger wert sein sollte, nur weil Sönke es erzwungen hatte. »Sie will uns bei Sönkes Versorgung helfen«, betonte sie.
Frauke schien zufrieden zu sein. Sie stellte ihre Tasche ab, der Aletta ansehen konnte, dass sie nun leer war. »Ich fürchte, er bekommt so was wie einen Lagerkoller. Wie alle Eingeschlossenen ihn irgendwann kriegen.«
Aletta runzelte die Stirn. »Was meinen Sie
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