Sturm über Sylt
abspielt. Und ich weiß nicht, warum Insa mich nach wie vor belügt. Obwohl wir uns nähergekommen sind, seit ich Sönke auf dem Speicher entdeckt habe.« Sie beugte sich vor, als wollte sie ihr Gesicht auf seine Hände legen, und Jorit kam dieser Bewegung entgegen, bis ihre Stirn seine berührte. »Reik Martensen kann nicht mein Bruder sein«, flüsterte sie. »Sein Vater war in dem Jahr vor meiner Geburt gar nicht auf Sylt.«
Nun griffen seine Hände zu, seine Stirn drängte sich näher an ihre. »Dann musst du weitersuchen.«
»Das ist schwierig, solange Sönke auf dem Speicher lebt.«
»Denkst du wieder an den Pfarrer?«
Aletta nickte und gab damit den Kontakt ihrer Stirn mit Jorits auf. Sie sahen sich in die Augen, Aletta stellte wieder fest, wie kräftig die schwarze Umrandung seiner Iris war, und sah zu, wie sich der Ausdruck seiner Augen wandelte.
»Ich bin nur wegen Dirk zu dir gekommen«, flüsterte sie.
»Ich werde mich darum kümmern«, flüsterte er zurück, ohne das Geringste dafür zu tun, die wunderbare Nähe und Vertrautheit zwischen ihnen zu vertreiben.
Sie wollte flüstern, aber es wurde ein Schluchzen daraus. »Tomma und ...«
»... und Ludwig, ich weiß.«
Wieder legten sie die Stirn aneinander, diesmal schloss Alettadie Augen, um diese Berührung mit allen Sinnen wahrzunehmen. Die Stille zwischen ihnen dehnte sich aus, wurde aber nicht zur Last, die Geräusche dieses Hauses waren ihr fremd, kamen aber nicht nah genug heran, um zu stören. Ihre Finger verschränkten sich, sie atmeten im Gleichtakt. Aletta spürte, wie sich Jorits Brustkorb im selben Rhythmus bewegte wie ihr eigener. Er war ihr Atem, sie war seiner.
Etwas näherte sich auf der Treppe, ein Huschen, ein Rascheln, es war, als striche etwas an der Tür entlang, ein vorsichtiger Rhythmus schien die Holzdielen vor der Tür zu bewegen. Aber Jorit blieb ganz ruhig. So glaubte Aletta, dass es der Atem des Hauses gewesen sei, der plötzlich so hörbar geworden war wie ihr eigener.
»Ich weiß, wo mein Schwiegervater seine Medikamente aufbewahrt«, flüsterte Jorit.
Als Aletta zurückkehrte, stand Insa mit zwei Nachbarinnen vor der Pforte, die in den Vorgarten führte, und besprach mit ihnen, wer ein paar Astern aus seinem Garten holen und wer daraus einen kleinen Kranz für den Kindersarg flechten solle. Sie gab Aletta mit den Augen einen Wink, damit sie nicht den Schlüssel für die Eingangstür benutzte, was zweifellos zu der Frage geführt hätte, warum die Lornsens neuerdings tagsüber ihr Haus sicherten, ob sie womöglich etwas zu verbergen hätten. So ging Aletta, als hätte sie nie etwas anderes beabsichtigt, ums Haus herum und benutzte den Eingang des Gästetraktes, um von dort in die Küche zu gelangen. Durch diesen Eingang würde niemals ein Nachbar zu Besuch kommen. Feriengäste wurden mit Hochachtung behandelt und durften nicht gestört werden. Genauso ging man auch mit den einquartierten Soldaten um, die schließlich ebenso ein kleines Einkommen sicherten und denen deswegen die gleichen Rechte zukamen.
Hütten und Fritz saßen am Küchentisch und ließen es sich schmecken. Als auch Insa in die Küche kam, verständigten sichdie beiden Schwestern mit einem kurzen Blickwechsel darüber, dass für Sönke gesorgt war. Frauke würde wohl bei ihm sitzen und darauf achten, dass auf dem Speicher nichts geschah, was in der Küche zu hören war. Aber Insas Vertrauen in Fraukes Fähigkeiten schien nicht groß zu sein. Sie war äußerst nervös, strich hundertmal ihre Schürze glatt und rührte immer wieder sinnlos im Suppentopf herum.
Hütten betrachtete sie stirnrunzelnd. »Was ist los, Frau Lornsen? Sie sind so unruhig.«
Insa fuhr herum, als hätte er sie beleidigt. »Unsinn!«
»Die Beerdigung des kleinen Mügge«, warf Aletta schnell ein. »Die geht meiner Schwester an die Nieren.«
Insa schnappte nach Luft, dann nickte sie. »Ja, wir müssen gleich los.«
Leutnant Fritz verstand diesen Hinweis als Bitte, die Schwestern mit dem Abwasch allein zu lassen, und erhob sich. »Ich freue mich schon sehr auf Ihr Konzert morgen«, sagte er zu Aletta. »Wenn der Krieg vorbei ist und ich Sie wieder in einem Theater oder einem Konzertsaal hören kann, dann werde ich allen erzählen, dass ich im Haus dieser großartigen Sängerin gewohnt habe.«
Hütten wuchtete sich nun auch in die Höhe. »Sie haben einen glühenden Verehrer«, meinte er, zwinkerte Aletta plump zu und lachte laut, während Leutnant Fritz peinlich berührt zu
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