Sturm über Sylt
umgefüllt.«
Jorit griff nach Alettas Hand, während er bat: »Wenn Sönke kein Opium mehr braucht, gib mir, was übriggeblieben ist. Dann fülle ich es wieder in die Flasche, und niemand hat was gemerkt.«
Aletta nickte nur, ohne ihm zu sagen, wie naiv sie seinen Optimismus fand. Aber als Jorit zurückkehrte, ohne den Hausschlüssel gefunden zu haben, war auch seine Sorglosigkeit zu einem Teil von ihm abgefallen. »Du hast den Schrank nicht sorgfältig abgeschlossen«, sagte er zu Aletta. »Meine Schwiegereltern werfen es sich gegenseitig vor. Ich hoffe, es merkt niemand, dass mehrere Tüten Aspirin und ein Fläschchen Opium fehlen.«Die Zeit verging nicht, an diesem Abend verstrich sie quälend langsam. Aletta starrte den Zeiger der Uhr an, lauschte auf ihren eigenen Herzschlag und versuchte, da draußen, in der Natur, etwas zu finden, was denselben Rhythmus hatte. Zuerst war es ein tropfendes Regenrohr, dann das Knattern einer Fahne und schließlich Insas Fingernagel, der auf der Stuhllehne Alettas Herzschlag klopfte. Als die Uhr endlich eine volle Stunde schlug, erhob sie sich, ohne zu wissen, wie spät es war. »Ich gehe schlafen.« Sie blickte in Insas Gesicht, das starr gegen die Wand gerichtet war, wie seit mindestens einer vollen Stunde. Aletta hätte gern etwas Versöhnliches gesagt, aber es fiel ihr nichts ein, von dem sie sicher sein konnte, dass es nicht erneut Insas Unmut erregte.
Aus der Ferne hörten sie Schüsse. Aletta stockte und lauschte. »Die Inselwache?«
Insa nahm den Blick nicht von der Wand. »Die Entenjäger geben nicht auf.«
Aletta betrachtete sie, ihre aufrechte Haltung, den erhobenen Kopf, die dicken Haarflechten, das blasse, ebenmäßige Gesicht. »Oder ein Spion«, antwortete sie, froh über jedes Gespräch, das sich anknüpfen ließ. »Ich habe es kürzlich an der Tafel am Rathaus gelesen: Spione treiben sich überall herum. Die wollen was herausbekommen über Truppenstellungen und militärische Einrichtungen.«
»Und warum wird auf sie geschossen?«, fragte Insa spöttisch.
Aletta bewegte sich langsam zur Tür. Jetzt bereute sie, dass sie nicht wortlos das Zimmer verlassen hatte. »Im Krieg gelten andere Gesetze.«
»Ja, man hört, dass sogar Deserteure ohne viel Federlesen erschossen werden.« Immer noch dieser Spott in ihrer Stimme!
»Trotzdem hast du dich von Frauke Lützen dazu anstiften lassen, einen Deserteur zu verstecken.«
»Was weißt du schon!«
»Nichts! Weil du mir nichts sagst.«
»Die Geschwätzigkeit überlasse ich meiner Schwester.«
»Wir sollten während der Nacht nach Sönke sehen. Wenn er wieder Schmerzen hat ...«
»Das erledige ich schon.«
»Ich kann das auch übernehmen.«
»Gute Nacht.«
»Schlaf gut.« Aletta verließ das Zimmer. Auf ihrer Wange brannte eine Ohrfeige, die sie nicht erhalten hatte, in ihren Ohren gellte eine Beleidigung, die nicht ausgesprochen worden war.
Sie ging nicht sofort schlafen, sondern wie immer zunächst zur Eingangstür, wo sie sorgfältig ihren Seidenschal auf den Haken hängte, dann auf den Speicher, um nach Sönke zu sehen. Er war wach und sah ihr ruhig entgegen. Sein hübsches Gesicht wirkte gelöst, die Augen blickten klar. »Geht’s dir besser?«
Er sah sie zweifelnd an, als müsste er sich zunächst überlegen, ob er ihr trauen dürfe, was er zu antworten habe, dann nickte er.
»Keine Schmerzen mehr?«
Diesmal schüttelte er den Kopf.
Aletta hob seine Decke auf und betrachtete sein Bein. Frauke hatte es sorgfältig geschient, die Wunde jedoch sah nicht gut aus. Sönke beobachtete sie ängstlich, während sie die Wunde inspizierte. »Nicht anfassen!«
Aletta nickte beruhigend. Frauke hatte die Wunde ausgewaschen, eine Pinzette über einer Flamme ausgeglüht und dann größere Schmutzpartikel entfernt, trotzdem sah die Wunde so aus, als hätte sie sich entzündet. Ob Frauke Lützen in der Lage war, eine eitrige Wunde zu säubern?
»Was ist?«, fragte Sönke ängstlich.
»Alles in Ordnung«, entgegnete Aletta so leichthin wie möglich. Vorsichtig deckte sie die Wunde wieder mit Verbandmull zu, dann griff sie nach dem Wasserkrug und gab Sönke zu trinken. »Meine Schwester wird später noch nach dir sehen.«
»Und die andere Frau?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht morgen wieder ...«
Er versuchte, sich aufzurichten, um ihr nachzublicken, aber diese leichte Bewegung bereitete ihm gleich wieder Schmerzen.
»Bleib ruhig liegen. Dann wird alles gut.«
Er zeigte zu einer Flasche mit einem weiten Hals,
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