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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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das ganz Ausmaß der Katastrophe erfasste. In ihrem Kopf hatten schon Ausflüchte herumgespukt, eine Zeugenaussage, ein Schwur, dass sie dabei gewesen sei, dass sie alles beobachtet habe, dass ihre Schwester gar keine andere Möglichkeit gehabt habe, um sich zu verteidigen ... jetzt begriff sie, dass das alles nichts nützen würde.
    Die Steinchen prasselten ans Fenster, ohne dass etwas geschah. Immer und immer wieder. Aber dahinter blieb alles ruhig, stillund dunkel, nichts rührte sich. Allmählich ging ihr die Kraft aus. Sie versuchte es mit dem Ruf einer Eule, den sie noch immer so gut beherrschte wie vor zehn Jahren, und huschte hinter einen Baum, weil es so schien, als regte sich hinter einem Fenster in der ersten Etage etwas. Als nichts geschah, versuchte sie es erneut. Und endlich flammte Licht auf. Der Ruf der Eule hatte Jorits Umrisse hinter die Scheibe geholt. Der Fenstergriff knarzte, Aletta blieb beinahe das Herz stehen, als er, wenn auch leise, ihren Namen rief. Vermutlich hatte er nicht glauben können, dass sie ihn wie früher ins Freie rief, wenn es ihr gelungen war, der elterlichen Kontrolle zu entwischen. Sie trat kurz hinter dem Baum hervor, winkte ihn mit aufgeregten Handzeichen nach unten und verbarg sich wieder, als sie sicher war, dass er sie verstanden hatte.
    Während sie auf ihn wartete, machte sie eine Bewegung an der Gardine in der ersten Etage aus. Oder stand das Fenster einen Spalt breit offen, und der Wind hatte die Gardine gebauscht? Sie war nicht sicher. Aber die Angst, dass nicht nur Jorit, sondern auch ein anderer Bewohner des »Hotels Lauritzen« auf sie aufmerksam geworden war, begleitete sie, während sie mit Jorit in die Stephanstraße lief.
    Als sie dort ankamen, hatte sie ihn über alles informiert. »Wir schaffen es nicht allein! Der Kerl ist zu schwer!«
    »Wo soll er hin? Habt ihr euch das schon überlegt?«
    »Wir legen ihn auf dem Weg ab, den er morgens nimmt, wenn er zum Dienst muss.«
    Jorit fragte nicht, warum ausgerechnet er bei so etwas wie der Beseitigung einer Leiche helfen sollte, und gab mit keinem Wort zu verstehen, dass er damit nichts zu tun haben wollte. Auch kein Vorwurf, keine überflüssige Frage kam über seine Lippen. Er stand an ihrer Seite. Wie damals, als ein Obsthändler sie beschuldigt hatte, einen Apfel gestohlen zu haben. Und heute genauso, obwohl sie ihn vor zehn Jahren belogen und verlassen hatte. Eine Welle der Zärtlichkeit überkam sie, aber es war nicht einmal die Zeit, ihm ihre Dankbarkeit zu zeigen.
    »Hältst du das wirklich für gut?«, fragte Jorit. »Wäre es nicht besser, ihn zu verstecken?«
    »Dafür ist keine Zeit. Er muss aus dem Haus. Unbedingt! Noch bevor er morgen vermisst wird! Und wir müssen das erledigt haben, bevor es hell wird.«
    Jorit hielt Aletta am Ärmel fest, ehe sie das Haus betrat. »Bist du sicher, dass Insa dir die ganze Wahrheit gesagt hat? Wollte er sie wirklich vergewaltigen?«
    »Eigentlich hatte er wohl eher erwartet, dass sie sich nicht gegen ihn zur Wehr setzt. Er behauptete ja, er habe etwas gegen sie in der Hand. Sie sollte sich fügen, oder alle Welt würde es erfahren.«
    »Deine Schwester sagt dir noch immer nicht die Wahrheit?«
    »Sie bleibt dabei: Es handle sich um eine Verwechslung.«
    Als Jorit nach wie vor zögerte, zog sie ihn einfach mit sich. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber Gedanken zu machen. Der Hauptmann muss aus dem Haus.«
    Das sah Jorit ein. Und tatsächlich gelang es ihnen zu dritt, was Insa und Aletta allein nicht geschafft hatten. Sie bugsierten die Leiche die Treppe hinunter, trugen sie mit vereinten Kräften in die Küche und von dort in den Garten. Es herrschte Vollmond, die Nacht war hell, sämtliche Umrisse waren schärfer als am Tage, die Schatten so klar wie aufgemalte dunkle Figuren, Vierecke, Kreise und Bewegungen.
    Sie hatten dem Toten einen Sack über den Kopf gezogen, den Insa in einer Speicherecke gefunden hatte, damit es keine Blutspuren im Haus gab und auch, damit sie nicht in Kalkhoffs Gesicht sehen mussten, in seine halbgeschlossenen Augen, auf seinen zum Schrei geöffneten Mund. Es war schlimm genug gewesen, Stufe für Stufe das Aufschlagen seines Schädels zu hören.
    Nun lag er zu ihren Füßen, Insa schaute über ihn hinweg und vermied es gleichzeitig, Aletta anzusehen. Diese versuchte, die Aufmerksamkeit ihrer Schwester zu erzwingen, indem sie sie anstarrte und wartete, dass sie ihren Blick endlich erwiderte.Dort wollte sie erkennen,

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