Sturm über Sylt
Seidenschals gewesen, das ihr zu schaffen machte, kein Lampenfieber. Er hatte nicht mehr an seinem Haken neben der Haustür gehangen, und Aletta hatte ihn nirgendwo gefunden, so lange sie auch gesucht hatte.
Ein Konzert ohne Ludwig, ohne ihren Schal, der ihre Stimme warm zu halten hatte, ein Konzert, das mit wirren Gedanken begann, mit Fragen, die sie sich nicht beantworten konnte! Wahrscheinlich würde sie sogar die Liedertexte vergessen und sich nicht mehr an die Melodien erinnern. Ihr fehlte die Ruhe, die sie nötig hatte, dieses Sich-ganz-Hingeben, das die Musik brauchte, dieses Ganz oder Gar-nicht.
»Vor einem Konzert müssen alle Fragen beantwortet sein«, hatte Vera Etzold gesagt.
In ihrem Kopf jedoch drehten sie sich um- und miteinander. Wie war der Schlüssel ins Schloss der Haustür gekommen? Wer hatte die Tür damit geöffnet und ihn dann stecken lassen? Wo war ihr Schal? Und zu welcher Ansicht mochten die Polizisten kommen, nachdem im Morgengrauen die Leiche von Hauptmann Eberhard Kalkhoff gefunden worden war? In der Stadt war tatsächlich von Spionen die Rede gewesen, die Offiziere ansprachen, um sie auszufragen, und wütend reagierten, wenn sie keinen Erfolg hatten, wenn sie durchschaut wurden oder man ihnen sogar mit Anzeige drohte. Hoffentlich kamen die Polizisten auch zu dieser Ansicht! Sie waren in der Stephanstraße von Haus zu Haus gegangen und natürlich auch zu ihnen gekommen, um sie nach Beobachtungen zu fragen. Aber sie waren ganz ruhig geblieben. Diese Befragung war Routine, niemand hegte einen Verdacht gegen die Schwestern Lornsen.
Der große Raum der Baracke musste mittlerweile zum Bersten voll sein. Dort wurde sonst das Essen eingenommen, an diesem Abend waren alle Tische nach draußen getragen und die Stühle zu ordentlichen Reihen aufgestellt worden. Der Lärm war gewaltig, der hinter den improvisierten Vorhang drang. Da gab es keine vornehme Ruhe, kein kultiviertes Lachen oder angeregte Gespräche. Was sie hörte, war das Grölen gut gelaunter Männer, die froh waren, für ein paar Stunden ihrem öden Wachdienst zu entkommen. Da saßen viele, die keine Ahnung hatten, wie man sich in einem Konzertsaal benahm, selbst wenn er eigentlich die Kantine einer Soldatenbaracke war.
Oberleutnant Schubert wirkte alles andere als souverän. Zwar versicherte er, bestens vorbereitet zu sein und die Noten und sämtliche Einsätze im Kopf zu haben, aber er war mit Reik einer Meinung, dass es ein gewaltiger Unterschied sei, ob man daheim der Familie etwas vorsang und -spielte oder gut hundert Leuten, die nur auf einen Fehler warteten, um sich darüber zu amüsieren.
Als sie die Bühne betraten, erschrak Aletta über das Gebrüll, das ihnen entgegenschlug. Kein vornehmer Applaus, keine kultivierte Begeisterung empfing sie, sondern das Jubelgeschrei von einfachen Männern, denen man erzählt hatte, dass Applaus das Brot des Künstlers sei, und die großzügig sein wollten. Die geübten Konzertbesucher, denen es nicht auf fröhliche Abwechslung, sondern auf den Kunstgenuss ankam, waren derart in der Minderheit, dass ihre vornehme Zurückhaltung sich nicht durchsetzen konnte, ja nicht einmal auffiel.
Noch nie hatte Aletta sich, wenn sie eine Bühne betrat, gewünscht, woanders zu sein. Dies war das erste Mal. Sie musste sich zusammenreißen! Schon wegen Reik, der sich an ihr orientierte, der ihre Unsicherheit und ihren Widerwillen sofort aufnahm! Das sah sie an dem Blick, den er ihr zuwarf, nachdem er zunächst die schreiende Zustimmung des Publikums geschmeichelt zur Kenntnis genommen hatte, dann aber unsicher wurde, als er Alettas versteinerte Miene bemerkte. Zusammenreißen!
Ludwig hatte gesagt: »Und wenn unter hundert Idioten nur einer ist, der deine Kunst zu schätzen weiß, dann sing für ihn!«
Und Vera hatte sie oft ermahnt: »Du musst dein Publikum überzeugen. Es ist nicht ihre Pflicht, dich von ihrer Anerkennung zu überzeugen. Es ist an dir, sie mitzureißen.«
Tatsächlich gelang Oberleutnant Schubert der Einstieg sehr gut, und als Aletta und Reik das Konzert mit ihrem Duett eröffneten »Wenn ich ein Vöglein wär ...«, trat vollkommene Stille ein. Wie Aletta befürchtet hatte, sang sie schlecht, ihre Stimme schwankte oft, sie konnte die halben Noten nicht auskosten, sang die Viertelnoten zu kurz und die Vorschläge zu lang. Und vor allem: Ihrem Gesang fehlten die Leidenschaft, die Wärme, die Innigkeit, aus der Überzeugungskraft entsteht. Sie konnte nicht für Ludwig singen,
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