Sturm über Sylt
...«
»Hoffentlich war es das wirklich«, gab Jorit zurück. »Ich möchte mir später nicht sagen müssen, dass ich einer Mörderin geholfen habe.«
Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte er, dieses schreckliche Wort zurückzuholen, und zog Aletta in seine Arme. »Wir gehören zusammen«, flüsterte er. »Immer noch! Merkst du es auch?«
Sie ließ seine Frage über ihren Kopf hinwegfliegen und lauschte ihr nach. Dann nickte sie. »Ja, das mit uns ist etwas Besonderes.« Und zögernd setzte sie hinzu: »Trotz allem.«
»Hättest du einen anderen gebeten, dir zu helfen?«
»Niemanden sonst!« Über diese Antwort brauchte Aletta nicht nachzudenken. Sie vertraute niemandem so wie Jorit. »Aber Tomma ...«
Er löste sich von ihr, sah ihr in die Augen, dann hob er ihr Kinn und küsste ihren Mund. Ganz sanft, ganz zärtlich. Nicht fordernd und auch nicht leidenschaftlich. Nicht, wie ein Freund küsste, aber auch nicht wie ein Geliebter. Es war ein wunderbarer Kuss, und er dauerte, bis plötzlich Insas Stimme zu hören war: »Komm ins Haus, Aletta!«
Jorit und Aletta fuhren auseinander, sahen sich schuldbewusst um, aber Insa war nicht zu sehen. Ihre Stimme klang aus der Tiefe des Gartens. »Komm!«
Jorit berührte mit dem rechten Zeigefinger Alettas Lippen, dann eilte er die Stephanstraße hinab. Sie sah ihm nach, bis die Dunkelheit ihn verschluckt hatte, dann erst öffnete sie das Tor zum Vorgarten.
In Gedanken an Jorit versunken, folgte sie nicht ihren Überlegungen, sondern der Macht der Gewohnheit. Sie ging auf die Haustür zu, obwohl sie wusste, dass sie verschlossen war, drückte die Klinke herab, obwohl sie wusste, dass die Tür nicht nachgeben würde – und stand mit einem Mal in der Diele. Auf den Fleck gebannt, die Türklinke noch in der Hand! Die Haustür hatte sich öffnen lassen! Und der Schlüssel ... er steckte im Schloss.
XV.
Sie hatte eines ihrer Nachmittagskleider hervorgeholt. Auf große Garderobe, die sie sonst auf der Bühne trug, wollte sie verzichten. Zu den grauen Uniformen schien keines ihrer Abendkleider zu passen. Als sie aus der Kutsche gestiegen war, die Oberst von Rode ihr geschickt hatte, war sie in ihrem Entschluss bestätigt worden. Das triste Barackenlager lud nicht ein zu schimmernder Seide und strassbesetzten Säumen. Intuitiv hatte sie sich richtig entschieden, als sie das helle zweiteilige Kleid aus der mit Leinen ausgeschlagenen Kiste geholt hatte, wo sie es nach ihrem Auszug aus dem »Miramar« verstaut hatte. Der weich fallende Stoff, der bis zu den Knöcheln reichte und exakt an der oberen Kante ihrer Schnürstiefeletten endete, war genau richtig – weiblich, elegant, aber nicht protzig. Und das geknöpfte Oberteil mit der Schleife unter dem Kragen, die von derselben Farbe war wie die Knöpfe, wirkte einerseits sittsam, aber andererseits auch verführerisch, weil es sehr eng geschnitten war. Jedenfalls nicht provozierend, was Jorit wichtig gefunden hatte, der seine Kameraden kannte und wusste, wie sie auf weibliche Reize reagierten.
Sie würde nicht gut sein an diesem Tag, das merkte Aletta bald. Wahrscheinlich würde sie so schlecht singen wie noch nie. Und wundern konnte sie sich darüber nicht. Wenn es auch eine gute Idee von Reik gewesen war, sie mit den Vorbereitungen auf dieses Konzert von Trauer und Verzweiflung abzulenken, so merkte sie schon, bevor sie sich auf die improvisierte Bühne begab, dass sie womöglich einen Fehler machte. Sie hätte behutsamer mit ihrer Stimme umgehen und vorsichtiger mit der Zeit beginnen müssen, in der Ludwig nicht mehr an ihrer Seite sein würde. Er fehlte ihr, seine Ruhe, sein Schutz. In diesem Fall musste sie sogar all das für Reik sein, was Ludwig für sie gewesen war. Er brauchte Beruhigung, Kraft, Zuversicht, denn dieses Konzert bedeutete für ihn, sich zum ersten Mal einem großen Publikum zu präsentieren. Das Lampenfieber quälte ihn schrecklich. Am Anfang ihrer Karriere hatte auch Aletta unter dieser Nervosität gelitten, später war sie dann von ihr abgefallen. Die Sicherheit, die sie aus Ludwigs Ruhe schöpfte, hatte sie von jedem Lampenfieber befreit.
Reik aber glaubte, dass es ihr, der erfahrenen Sängerin, ähnlich ging wie ihm, als er sah, wie sie nervös über ihren Ausschnitt tastete und den Hals immer wieder mit beiden Händen bedeckte. Und sie hatte bestätigend genickt und behauptet, das sei ganz normal, er solle keine Angst vor seiner eigenen Aufregung haben. In Wirklichkeit war es das Fehlen ihres
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