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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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wie es Insa ging, welche Gefühle in ihr waren im Angesicht des Toten, ob es Schuldbewusstsein gab, Entsetzen, Reue oder gar die Genugtuung der Vergeltung. Aber Aletta wartete vergeblich. Insa sah sie nicht an. Ihr Blick war leer, ausdruckslos, sie starrte an ihr vorbei zum Haus der Oselichs, dessen Umrisse sich allmählich aus der Nacht lösten.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte Insa. »Es wird bald hell.«
    Jorit war zum Gartenhäuschen gelaufen, jetzt kehrte er mit einer Schubkarre zurück. »Da hinein«, flüsterte er, griff nach Kalkhoffs Schultern und hob ihn an.
    Aletta und Insa mühten sich mit den Füßen ab, und schließlich war der schwere Körper so weit auf die Schubkarre gehoben worden, dass Jorit ihn zurechtlegen und sichern konnte. Er nahm die beiden Griffe. »Wir sollten ihn durchs Haus schieben und dann vorn zur Tür heraus. Wenn die Oselichs aus dem Fenster schauen oder einer der Soldaten ...«
    »Geht nicht«, antwortete Insa, und jetzt war Aletta froh, dass sie keinen Blick für ihre kleine Schwester hatte. »Die Haustür ist abgeschlossen, der Schlüssel fehlt.«
    Nun fiel es Jorit wieder ein. »Dann müssen wir es also riskieren.«
    Sie kamen ungesehen zur Straße. Insa und Aletta blickten nach links und rechts, dann gaben sie Jorit ein Zeichen. Eilig bog er mit der Schubkarre auf den Weg in Richtung Wilhelmstraße ein.
    An der Ecke blieb er bald stehen. »Am besten laden wir ihn hier ab«, meinte er. »Auf der Maybachstraße begegnen einem auch nachts Menschen. Soldaten, die gezecht haben, oder Huren, die nach Freiern Ausschau halten. Auf der Friedrichstraße ist es noch gefährlicher.«
    Aletta ging zu dem Haus, das einmal Kapitän Friedrich Erichsen gehört hatte, und wies auf den Pavillon, der an der Straßenecke errichtet worden war. »Hier!« Sie zeigte auf das hohe Gras, das zu Füßen des Pavillons wucherte, und auf eine Abfalltonne,die Sichtschutz bot. »Wenn wir ihn hier ablegen, wird er nicht gleich beim ersten Tageslicht gesehen. Wir brauchen Zeit, um das Haus zu säubern.«
    »Warum?«, fragte Insa. »Glaubst du, die Polizei könnte zu uns kommen?«
    »Das ist nicht zu erwarten«, beruhigte Aletta sie, »aber besser, wir gehen auf Nummer sicher.«
    Jorit hatte den Toten gerade abgeladen, als er plötzlich den Zeigefinger auf den Mund legte, sich in den Schatten des Pavillons zurückzog und den beiden Frauen mit aufgeregten Gesten zeigte, dass sie ihm folgen sollten. An die Hauswand geduckt lauschten sie auf die Geräusche der Nacht, aus denen sich tatsächlich eines löste, das in den Tag gehörte. Schritte! Kurze, schnelle Schritte, dann herrschte wieder Stille. Ein Scharren, als drehte sich jemand auf dem Absatz um, dann ein vorsichtiges Klacken. Jemand trat auf der Stelle, der nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Aletta starrte die Schubkarre an, die so stand, dass sie von einem Passanten auf der Stephanstraße gesehen werden konnte. Blieb nun gleich jemand vor ihr stehen, fragte sich, wie sie dort hingekommen war, und schaute sich genauer um? Oder erkannte er das Eigentum der Familie Lornsen, brachte es zurück und erinnerte sich später daran, dass er sie dort gefunden hatte, wo kurz darauf eine Leiche entdeckt worden war? Doch nach einer kurzen Zeit der Ruhe waren die Schritte erneut zu hören. Schnell und gleichmäßig. Sie entfernten sich, wurden immer schneller und waren bald darauf nicht mehr zu hören.
    »Puh«, machte Jorit, »das war knapp.«
    »Wer mag das gewesen sein?«, fragte Insa. »Um diese Zeit?«
    Sie löste sich aus dem Schatten, aber Aletta zog sie zurück. »Warte! Nicht, dass die Person zurückkommt!«
    So lange blieben sie geduckt stehen, bis der erste Leiterwagen auf der Maybachstraße zu hören war. Dann sagte Jorit: »Es wird Zeit. Wir müssen zurück.«
    So schnell wie möglich liefen sie die Stephanstraße hinunter,auf das Haus der Lornsens zu, Jorit mit der Schubkarre, die nun leicht war, so dass sie über jeden Stein sprang und Geräusche verursachte, die der schwere Körper Kalkhoffs gedämpft hatte.
    Aletta griff verstohlen nach Jorits Hand. »Danke!«
    Jorit warf Insa einen vielsagenden Blick zu, die ihnen mehrere Schritte voraus war. »Eigentlich sollte sie sich bedanken.«
    Aber Insa sagte kein Wort. Sie wartete am Gartenzaun, nahm Jorit die Schubkarre ab und ging ums Haus herum, ohne sich noch einmal umzusehen.
    »Sie ist durcheinander«, erklärte Aletta. »Sie hat einen Menschen umgebracht. Wenn es auch Notwehr war

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