Sturm über Sylt
galt der Musik, daneben fand nichts anderes Platz. Keine Frau, keine Kinder, keine Familie, keine Eitelkeiten. Er trug einen schäbigen schwarzen Anzug und eine Krawatte mit einem ausgefransten Knoten. Dass er einer der besten Dirigenten Deutschlands war, sah man ihm nicht an. Und dass er dem Krieg ein Schnäppchen geschlagen, auf eigene Verantwortung die Hamburger Staatsoper wieder geöffnet und mit den Proben begonnen hatte, passte zu ihm.
Während sie auf den Eingang des Hotels »Zum Deutschen Kaiser« zugingen, sagte er: »Sie haben sich heute unter Wert verkauft.«
»Ich weiß.«
»Aber wir wissen beide, dass Sie auch anders können!«
»Natürlich. Die Umgebung ...«
»Und der Tod Ludwig Burgers!«
»Sie sind gut informiert.«
Damit war fürs Erste alles gesagt.
Aletta Lornsen wurde mit viel Hallo im großen Saal empfangen, mit Komplimenten überschüttet, mit Champagner und vielen überflüssigen Fragen bedrängt. Anton Heussner fand keinerlei Beachtung, außer bei Oberst von Rode. Allein diese Tatsache sicherte ihm immerhin ein minimales Interesse zu. Dass hier ein berühmter Dirigent vor ihnen stand, ahnte niemand von denen, die sein fadenscheiniges Äußeres verächtlich betrachteten undsich wohl fragten, wo der gute Geschmack von Oberst von Rode geblieben war.
Die Ahnung, dass sie einem Irrtum erlegen waren, dass sie sich von Äußerlichkeiten hatten verleiten lassen und Unbeholfenheit und Bescheidenheit zu falschen Schlüssen geführt hatten, bekamen sie, als Aletta Lornsen mit dem unscheinbaren kleinen Mann ihre eigene Feier verließ und von Oberst von Rode und auch von Kompaniechef Ude nicht nur aus der Tür, sondern bis zur Kutsche eskortiert wurde. Dort erhielt der Mann im schäbigen Anzug eine männliche Umarmung von Oberst von Rode und einen zackigen Gruß von Kompaniechef Ude. Aletta lächelte zu den Fenstern, wo sich verstohlen neugierige Gesichter zeigten. Im »Hotel Zum Deutschen Kaiser« würde es jetzt jede Menge Gesprächsstoff geben.
In der Stephanstraße war es bereits dunkel und still, als die Kutsche vorfuhr. Nur in wenigen Häusern brannte noch eine Öllampe, in den meisten hatten sich die Bewohner schon zur Ruhe begeben.
In der Küche der Lornsens gab es noch Licht. Insa war also noch auf, sie ging ja immer erst spät schlafen, am liebsten erst, wenn alle Gäste im Haus waren. Hütten und Fritz waren entweder gleich nach dem Konzert nach Hause gefahren und hatten sich schon schlafen gelegt, oder sie waren im Klappholttal geblieben, um den Abend im Kreise ihrer Kameraden zu beschließen. Insa aber wartete auf die Rückkehr ihrer Schwester. Obwohl Aletta wusste, dass keine Fürsorge dahinterstecken konnte, erzeugte dieser Gedanke ein warmes Gefühl in ihr.
Heussner half ihr aus der Kutsche und bedeutete dem Fahrer, dass er warten möge.
»Wie lange können Sie bleiben?«, fragte Aletta, als sie das Törchen des Vorgartens öffnete.
»Nur bis morgen«, gab Heussner zurück. »In der Frühe geht wieder ein Schiff. Mein Freund, der Oberst, hat es leider nicht hinbekommen, mir ein paar Tage auf Sylt zu verschaffen.«
Aletta stockte, vor der Haustür blieb sie wie angewurzelt stehen. Aus der Küche drangen Stimmen, männliche Stimmen. Dann ein donnerndes Lachen von Männern, die einen Teil ihrer Hemmungen abgelegt hatten. Und nun die Stimme von Oberleutnant Schubert: »Dass ich hier mit zwei Gefreiten sitze, ist zwar ein Skandal, aber in diesem besonderen Fall wäre ich sogar bereit gewesen, mit euch aus derselben Flasche zu trinken.«
Diesmal war nur er es, der lachte, und dieses Lachen wurde von einer weiblichen Stimme abgeschnitten: »Ich hoffe, meine Schwester kommt bald heim.«
Aletta betrat das Haus und ging sofort in die Küche, ohne darauf zu achten, ob Anton Heussner ihr folgte. Insa saß am Tisch, sichtlich angespannt, Willem Schubert goss gerade die Wassergläser voll, und Reik und Jorit saßen rechts und links von ihm und sahen mindestens genauso angespannt aus wie Insa.
»Ah, da ist ja unsere große Sängerin«, rief Schubert. »Ich habe Champagner organisiert! Was sagen Sie nun? Und da uns Soldaten das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit nicht gestattet ist, haben wir uns erlaubt, in Ihrem Haus einzukehren. Ihre Schwester war so nett, uns Gläser zur Verfügung zu stellen.« Er schwenkte die Flasche wie eine Trophäe. »Keine Sorge, wir haben noch ein paar Flaschen in petto. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Ein toller Erfolg! Wenn das kein Grund
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