Sturm über Sylt
wollen.
»Hast du sie jemals um Gesangsstunden gebeten?«, fragte der Pfarrer leise. »Vielleicht wären sie einverstanden gewesen, dass Frau Etzold dich kostenlos unterrichtet.«
Aletta lachte auf. »Einmal habe ich davon geredet, dass ich Sängerin werden möchte. Meine Mutter hat mir eine Ohrfeige verpasst, und mein Vater hat mir gedroht, mich so lange im Hühnerstall einzusperren, bis ich zur Vernunft gekommen sei.« Wieder stieß sie ein Lachen aus, mit dem sie in den vergangenen zehn Jahren immer wieder jede Schuld von sich gewiesen hatte. Aber auch heute folgte eine tiefe Traurigkeit auf dieses bittere Lachen. »Ich dachte, Insa würde mich unterstützen. Aber sie war noch schlimmer als meine Eltern. Sie hat gesagt, meine Stimme sei die einer Krähe. Ich solle mir nichts darauf einbilden. Und ich habe gehört, wie sie Mutter geraten hat, mich hart anzufassen, damit sich diese verrückte Idee nicht in meinem Kopf festsetzt.«
Erst jetzt bemerkte Aletta, dass der Pfarrer sie sehr nachdenklich betrachtete. »Die arme Insa hat es nicht immer leicht gehabt.«
Aletta runzelte die Stirn. »Ich weiß so wenig von ihr, obwohl sie meine Schwester ist.«
»Ja, ja, der große Abstand zwischen euch beiden! Fünfzehn Jahre! Es war wie ein kleines Wunder, dass deine Mutter noch einmal schwanger wurde.«
»Warum hat Insa nie geheiratet?«
»Das solltest du sie selber fragen.«
Wieder stieß Aletta das Lachen aus, mit dem sie sich vor der ganzen Welt schützte. »Meinen Sie, das hätte ich nicht? Als ich klein war, hat sie mir auf den Mund geschlagen. Als ich größer wurde, hat sie mich wütend angefahren, das ginge mich nichts an, und später hat sie sich einfach umgedreht und mich stehen lassen.«
Der Pfarrer stand auf, ging um den Schreibtisch herum, griff nach Alettas Schultern und sah sie eindringlich an. »Es wärebesser für dich, woanders unterzukommen als ausgerechnet bei Insa.«
Aletta befreite sich mit einer kurzen Bewegung von seinen Händen. »Ich lasse mich nicht von meiner Schwester aus meinem Elternhaus drängen. Es gehört mir genauso gut wie ihr.« Sie stand auf, ging zur Tür und griff nach der Klinke. »Außerdem möchte Ludwig, dass ich dort einziehe, bis er zurückkommt. Ich habe es ihm versprochen.«
Sie kehrte dem Pfarrhaus den Rücken zu und ging los, mit gesenktem Kopf, wie sie es gewöhnt war, wenn sie sich in der Öffentlichkeit aufhielt. Sie wollte nicht angesprochen, nichts gefragt, auch nicht mit Lob und Schmeicheleien überschüttet werden. Erst recht nicht jemandem Rede und Antwort stehen müssen, der sich in ihrem Ruhm sonnen wollte und meinte, allein deswegen ein Recht auf sie zu haben, weil sie auf derselben Insel geboren waren.
Aber obwohl ihr, während sie den Kirchenweg hinunterging, gelegentlich jemand entgegenkam, blieb sie unbehelligt. Es war, als hätten sich die Bedeutsamkeiten verschoben, als wäre eine berühmte Sängerin nicht mehr wichtig angesichts der Ereignisse, die auf sie alle zukamen. Aletta richtete den Oberkörper auf, als sie an der Einmündung in die Stephanstraße anlangte, und hob sogar den Kopf. Vor einem Haus standen zwei Frauen, die miteinander sprachen und keine Notiz von ihr nahmen. Mehrere Männer in Arbeitskleidung gingen an ihr vorbei, die darüber diskutierten, ob der Krieg eigentlich schon begonnen habe oder nicht, ob sie auf einen Gestellungsbefehl warten oder sich gleich freiwillig an die Front melden sollten und ob diejenigen unter ihnen, die einen Betrieb führten und eine große Familie zu ernähren hatten, gänzlich von der Einberufung verschont blieben.
Aletta sah ihnen nach. Zwei junge Kerle waren dabei, denen man sogar von hinten die Freude am Kriegsabenteuer ansah, die beiden älteren Männer wirkten weit weniger euphorisch, undeiner von ihnen blickte ängstlich auf seine Füße und beteiligte sich nicht an der Diskussion.
Aletta beschloss, nicht in die Stephanstraße einzubiegen. Sie würde am Abend ihr Gepäck vom »Miramar« in ihr Elternhaus bringen lassen und morgen dort einziehen. Ihre Schwester hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie wenig es ihr gefiel, dass Aletta bei ihr wohnen wollte, aber natürlich wusste sie, dass sie es nicht verhindern konnte. Aletta hatte ein Recht darauf, und dass es objektiv vernünftig war, auf Sylt zu bleiben, musste auch Insa einsehen. Aber Aletta würde keinen Augenblick früher als nötig vor der Tür erscheinen.
Einem Impuls folgend, bog sie in die Maybachstraße ein, überquerte sie und ging
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