Sturm über Sylt
in die Paulstraße, den kleinen Weg zwischen Strand- und Friedrichstraße. Dort hatte früher die Familie Lauritzen gewohnt, Jorit mit seinen Eltern und Schwestern. Es war anzunehmen, dass das Hotel, von dem er gesprochen hatte, dort entstanden war.
In der Paulstraße war es nicht anders als in der Stephanstraße. Sämtliche Häuser, die früher dort klein und bescheiden gestanden hatten, waren beträchtlich erweitert und herausgeputzt worden. Die großen Grundstücke dienten nicht mehr vorrangig dem Anbau von Gemüse, sondern waren auf die Bedürfnisse von Feriengästen eingerichtet worden. Das Haus der Lauritzens war ein kleines spitzgiebeliges Haus gewesen, das nun durch Anbauten erheblich vergrößert worden war und eine ganz neue Form angenommen hatte. Die alten Bäume standen immer noch davor, aber ein neuer Zaun grenzte den Vorgarten von dem unbefestigten Weg ab, der bei schlechtem Wetter schmutzig und schwer zu begehen war. Die Anbauten links und rechts des ursprünglichen Hauses hatten große Fenster, hinter einigen war ein Speiseraum zu erkennen, hinter anderen ein Gesellschaftszimmer mit tiefen Sesseln und Bücherregalen. Aletta ahnte, dass die Tiefe des Grundstücks ebenfalls gut genutzt worden war und der frühere Obst- und Gemüsegarten, den Jorits Großmutterbestellt hatte, einem Anbau mit einer Reihe von Hotelzimmern hatte weichen müssen. Über dem Eingang prangte ein Schild: »Hotel Lauritzen«! Rechts und links neben der Tür luden Holzbänke ein, die Sonne, die Luft und den Anblick Vorübergehender zu genießen. Die Fenster, die früher ohne jeden Schmuck hatten auskommen müssen, waren nun mit teuren Spitzengardinen verhängt worden. Das Hotel Lauritzen wirkte sauber und gepflegt, einladend und komfortabel.
Der Hausdiener, der aus der Tür trat, kaum dass Aletta sich entschlossen hatte, Jorit einen Besuch abzustatten, hätte auch im »Miramar« seine Ausbildung erhalten haben können. Seine Uniform war makellos, seine Mütze, die über dem kleinen Schirm den Hotelnamen trug, riss er zackig vom Kopf und verbeugte sich schnittig. »Darf ich der Dame helfen?«
»Ich möchte zu Herrn Lauritzen«, antwortete Aletta lächelnd. »Ist er zu Hause?«
»Ich werde nachsehen.« Der Hausdiener ließ sie eintreten, bot ihr einen Platz in einem tiefen Sessel an und verschwand durch eine Tür, die er sorgfältig hinter sich schloss.
Aletta hatte kaum Zeit, sich umzusehen und die heutige Empfangsdiele mit dem damaligen Raum zu vergleichen, in dem Jorits Großvater vor dem Kamin gesessen und seine Pfeife gestopft hatte, während die Kinder zu seinen Füßen spielten. Nun war der Fußboden erneuert worden, die alten Holzplanken waren einem mosaikartig verlegten Steinboden gewichen, die Möbel waren nagelneu, und es gab Blumen und Wohnaccessoires, die im Hause Lauritzen früher undenkbar gewesen wären.
Die Tür sprang auf, und Jorit erschien auf der Schwelle. »Aletta! Du besuchst mich?« Er griff nach ihrer Hand, küsste sie und ließ sich neben ihr nieder. »Wie schön!«
Aletta war gerührt, als sie feststellte, dass er sich noch stärker verändert hatte, als auf den ersten Blick zu erkennen gewesen war. Jorit hatte sich Manieren angeeignet, die im Hotelwesen erwartet wurden, kleidete sich auch wie ein Hotelbesitzer undstrahlte Autorität aus, wie es für einen Mann, der eine Reihe von Angestellten hatte, nötig war. Jorit hatte sich nicht weniger verändert als sie selbst. Aber zum Glück war das Lachen seiner Augen geblieben und auch das Spitzbübische in seinen Mundwinkeln.
»Herzlichen Glückwunsch zu deinem hübschen Hotel«, sagte sie lächelnd.
Er lächelte zurück. »Mit dem ›Miramar‹ ist es natürlich nicht zu vergleichen.«
»Ich werde morgen früh ausziehen. Ich will bei meiner Schwester wohnen.«
»Du wirst auf Sylt bleiben?«
Aletta bemerkte, dass Jorits Augen aufleuchteten, aber sie ließ diese Beobachtung unkommentiert. Sie berichtete von Ludwigs Rückkehr nach Wien, von seiner Einschätzung der politischen Lage und seinen Sorgen. Während sie sprach, beobachtete sie Jorits Miene, hoffte auf eine Abwehr, auf eine andere Meinung, auf Worte wie: »Dein Freund sieht das alles zu schwarz« oder »Wird schon nicht so schlimm werden«.
Doch Jorit tat ihr den Gefallen nicht. Er nickte ernst und bestätigte Ludwigs Worte: »Es wird Krieg geben. Die Frage ist nur: Was wird das für Sylt bedeuten?«
Sein Blick schnellte durch den Raum, als wollte er alles an sich reißen, was er sah.
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