Sturm über Sylt
nächsten Morgen auf und fühlte sich nun besser und stärker. Der Gedanke an Ludwig tat noch weh, aber er schaffte es auch, zu trösten und Zuversicht zu geben. Und er verlieh ihr Kraft. Sie würde Ludwig nicht enttäuschen. Er sollte, wenn er zu ihr zurückkehrte, alles so vorfinden, wie er es sich wünschte. Als Erstes würde sie ihre Angelegenheiten in Ordnung bringen, damit es, wenn Ludwig wieder da war, nichts mehr gab, was sie vor ihm verbergen musste.
Nach einem reichhaltigen Frühstück ließ sie anspannen und sich zum Pfarrhaus von St. Niels bringen. Neben ihr auf der gepolsterten Bank der Kutsche lag ein Paket, auf das sie die Hand legte, als sie losfuhren, und dort während der ganzen Fahrt liegen ließ. Sie reichte dem Kutscher das Paket, als er die Tür öffnete, um sie aussteigen zu lassen, damit er es ins Pfarrhaus trug. Dann entließ sie ihn. »Ich werde zu Fuß zurückkehren.«
Die Haushälterin des Pfarrers betrachtete sie erstaunt, musterte ihre kunstvolle Frisur und ihr teures Kleid. Dann verstand sie, wen sie vor sich hatte, und machte einen Knicks, der sie fast das Gleichgewicht gekostet hätte. »Welche Ehre! Ich habe Ihr Konzert gesehen! Der Pfarrer hat mir die Karte geschenkt. Also, ich muss schon sagen ...«
Aletta wollte nicht hören, was die Haushälterin zu sagen hatte,nahm ihr das Paket ab, das Urte Ollmann vom Kutscher in Empfang genommen hatte, und fragte nach dem Pfarrer. »Ist er in seinem Studierzimmer?«
Urte Ollmann nickte, und so ging Aletta auf die Tür des Erdgeschosses zu, die sie kannte. Sie zögerte, als sie die Hand schon erhoben hatte, um zu klopfen. Und als sie merkte, dass die Haushälterin in der Küche verschwunden war, ließ sie die Hand wieder sinken. Ihre letzte Beichte hatte sie hinter dieser Tür abgelegt. Es war keine Zeit gewesen, auf den nächsten Gottesdienst zu warten, um im Beichtstuhl ihre Sünden zu bekennen. Sie war ins Pfarrhaus gegangen, so wie jetzt. Nur, dass sie damals nicht so freundlich empfangen worden war.
»Ich habe gesündigt. Schwer gesündigt! Ich bin eine Diebin, die Sie jahrelang vergeblich gesucht haben. Ich war es, die die Kollekte gestohlen hat, mehr als einmal. Ich habe auch Geld aus Ihrem Schreibtisch genommen, die Gäste im ›Miramar‹ bestohlen und in die Kasse eines Ladengeschäftes gegriffen. Sogar im Stubenladen von Rosi Nickels habe ich gestohlen.«
Der Pfarrer hatte sie angestarrt, als hielte er sie für übergeschnappt. »Du? Aber, Aletta ... du bist doch ein gutes Kind.«
»Ich wollte es nur ein einziges Mal tun. Aber dabei wurde ich erwischt und dann gezwungen, es immer wieder zu tun. Sonst wäre ich verraten worden.«
»Wer hat dich gezwungen?«
Aber Aletta hatte den Kopf geschüttelt. Nein, Dirk Stobart sollte seine Sünden selber beichten. »Ich musste ihm die Hälfte des Geldes geben, das ich gestohlen hatte. Wofür er es brauchte, wusste ich nicht. Jedenfalls anfänglich ...«
»Und später?«
»Später habe ich gemerkt, dass er es für einen Menschen brauchte, den er liebte. Von da an war ich es, die ihn erpressen konnte.«
»Das willst du auch beichten?«
Nein, daran hatte Aletta nicht gedacht. »Ich habe ihm nur gedroht, damit endlich Schluss war mit den Diebstählen. Er hatte mich nicht mehr in der Hand. Von da an hatte er genauso große Angst, dass sein Geheimnis ans Licht kam.«
Der Pfarrer hatte nach Luft geschnappt und sogar ein paar von seinen Herztropfen gebraucht, als Aletta ihre Beichte mit der Ankündigung vervollständigte, dass sie am nächsten Tag die Insel verlassen wolle. »Niemand darf es wissen, damit ich nicht zurückgehalten werde. Sie dürfen mich nicht verraten, Hochwürden. Ich weiß, dass Sie ans Beichtgeheimnis gebunden sind.«
Pfarrer Frerich hatte sie mit schweren Bußen belegt, die Aletta bereitwillig auf sich nahm, und noch ein paar Rosenkränze dafür hinzugefügt, dass sie nicht schon vorher ihre Sünden gebeichtet hatte. Dann war er in sie gedrungen, damit sie sich ihre Flucht noch einmal überlegte. »Das darfst du deinen Eltern nicht antun.«
»Ich muss, Hochwürden! Vera sagt, es ist mein Recht.«
Dann war sie gegangen, mit einem leichten Gewissen und dem Versprechen, dass sie zurückkommen werde, wenn sie eine berühmte Sängerin geworden war. An diesem Tag würde sie auch das Geld zurückzahlen, das sie gestohlen hatte. Nachdem der Pfarrer ihre Sünden verziehen und sie zum Abschied gesegnet hatte, wog die letzte Lüge, die sie ihren Eltern auftischen musste,
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