Sturm über Sylt
lebt bei ihren Eltern auf dem Festland.«
Als Aletta ins »Miramar« zurückkehrte, begegnete sie im Foyer Direktor Busse. »Es wird Sie sicherlich interessieren, dass Österreich heute die Generalmobilmachung ausgerufen hat«, teilte er ihr mit. »Es war richtig, dass Herr Burger in die Heimat zurückgereist ist.«
Aletta hatte sich mit dem Unausweichlichen nun abgefunden, empfand aber dennoch jeden weiteren Beweis dieser Unausweichlichkeit wie eine Strafe, die sie nicht verdient hatte. »Und Deutschland?«, fragte sie tonlos.
»Es kann nicht mehr lange dauern«, meinte Busse und verbeugte sich, als wollte er sich bei Aletta für das entschuldigen, was auf sie alle zukommen würde. »In den Zeitungen ist heute schon die drohende Kriegsgefahr verkündet worden. Haben Sie es nicht gelesen?«
Aletta verzichtete auf die Erklärung, dass sie niemals Zeitung las, sondern daran gewöhnt war, von Ludwig zu erfahren, was für sie wichtig war.
Sie sah sich im Hotelfoyer um. Die Hausdiener hetzten hin und her, Dienstmädchen liefen die Treppen hinauf und herab, dazwischen spielten Kinder und wurden nicht daran gehindert, auf ihren Steckenpferden durchs Foyer zu reiten. Mit der vornehmen Ruhe im »Miramar« war es vorbei.
»Die ersten Gäste reisen ab«, raunte Direktor Busse ihr zu. »Sie wollen zu Hause sein, wenn der Krieg ausbricht.«
Aletta dachte daran, wie unbeschwert und fröhlich noch am Tag zuvor das Strandleben gewesen war, wie unbeeindruckt sich die Feriengäste von der drohenden Gefahr gezeigt hatten. So unbeeindruckt,dass Aletta ebenso wenig an die Gefahr hatte glauben können. Nun waren auch diejenigen aufgeschreckt worden, die bisher den Kopf in den Sand gesteckt hatten.
»Haben Sie mein großes Gepäck schon in die Stephanstraße bringen lassen?«, fragte sie.
Direktor Busse bestätigte es. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme letzte Nacht in meinem Hause und hoffe, dass Sie in Friedenszeiten wieder mein Gast sein werden. Zusammen mit Herrn Burger, der hoffentlich unversehrt aus dem Krieg zurückkehren wird.«
Er entschuldigte sich, weil er viel mit den verfrühten Abreisen zu tun hatte, und lief davon. Mit schweren Schritten ging Aletta die Treppe hoch. Direktor Busse blickte bereits in die Zukunft, auf die Zeit nach dem Krieg. Das konnte sie nicht. Der Krieg stand wie eine schwarze Wand vor ihr, unüberwindbar. Was sich dahinter verbarg, war ungewiss. Es konnte ein Wiederaufblühen sein, aber auch tiefes Elend.
Sie ließ sich Tee ans Bett bringen, der ihr beim Einschlafen helfen sollte, und verbot sich, zur Kenntnis zu nehmen, wie gehetzt die Dienstboten waren, die zu den Handreichungen bei ihr erschienen, an die sie gewöhnt war. Sie nahmen sich kaum die Zeit zum Knicksen, huschten nur im Laufen kurz in die Knie und beeilten sich mit der Erledigung ihrer Aufträge. Dass zwei der Mädchen nicht mehr da waren, wollte Aletta nicht bemerken, und sie erkundigte sich nicht nach Berta und Hella. Dieser letzte Abend im »Miramar« sollte so sein, wie er für Vera Etzold selbstverständlich gewesen war. So, als könnte es keinen Krieg geben.
Das Frühstück nahm sie im Bett ein, ebenfalls in dem Bewusstsein, dass es womöglich ein Abschied für immer war. Dann ließ sie sich bei der Frisur helfen, obwohl sie lange warten musste, bis endlich eines der Dienstmädchen Zeit für sie hatte, und packte ihre Utensilien nicht selbst zusammen, sondern klingelte auch dafür nach einem Mädchen. Anschließend ließ sie denHausdiener rufen, damit er ihre Tasche in die Kutsche trug, die sie zur Stephanstraße bringen sollte.
Langsam schritt Aletta hinter ihm die Stufen hinab, blieb dann aber in der Mitte der Treppe stehen. Im Foyer standen mehrere Herren, jeder von ihnen hatte ein Zeitungsblatt in der Hand. Aletta konnte sehen, was auf der Titelseite stand. »Extrablatt! Der deutsche Kaiser hat die Mobilmachung angeordnet!«
Neben ihr erschien ein Hotelgast, der im Nachbarzimmer logierte und einmal die Gelegenheit ergriffen hatte, ihr zu sagen, dass er ein Verehrer ihrer Kunst sei. »Es ist so weit«, sagte er. »Deutschland wird vermutlich heute noch Russland den Krieg erklären.« Er reichte Aletta den Arm und schritt mit ihr gemeinsam die Treppe hinab. »Und die deutsche Kriegserklärung an Frankreich wird nicht lange auf sich warten lassen.«
Als die Kutsche die Friedrichstraße entlangrollte, schien sich jedoch nichts verändert zu haben. Feriengäste bummelten von einem Geschäft zum anderen. Damen in hellen
Weitere Kostenlose Bücher