Sturm über Sylt
gehalten hatte: Ludwig verließ ihr Leben.
Den Rest des Tages verbrachte sie in Lethargie. Sie warf sich aufs Bett und klingelte nach einem Mädchen, das ihr die Schuhe ausziehen, das Korsett lösen und die Schläfen massieren sollte. Sie ließ nach Kaffee schicken, dann nach Tee, trank aber beides nicht und lehnte auch das leichte Essen ab, das sie bestellt hatte. In diesen wenigen Stunden wurde ihr klar, wie leer ihr Leben ohne Ludwig sein würde. In den vergangenen Jahren war er mit einer solchen Selbstverständlichkeit an ihrer Seite gewesen, hatte ihr Leben, ihr Talent und ihren Erfolg so entschieden zu seiner eigenen Passion gemacht, dass aus dieser Selbstverständlichkeit eine Symbiose erwachsen war, die sich nur unter großen Schmerzen auflösen ließ.
Aletta floh in Selbstgespräche, macht Ludwig Vorwürfe, weil er sie verlassen hatte, weil ihm das Vaterland mehr bedeutete als ihr gemeinsames Leben und schrie ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe an. Dann wieder öffnete sie das Fenster, um sich von der Weite des Himmels, des Meeres und vom Wind mäßigen zu lassen, und konnte Ludwig fragen, woher er die Kraft genommen hatte, sie zu verlassen, auf ihr Glück zu verzichten, ihre Zukunft in Frage zu stellen, ohne sie seine Traurigkeit spüren zu lassen, unter der er gelitten haben musste. Und nie vorher hatte sie sich gefragt, ob sie ihn mehr brauchen könnte als er sie.
Wenn sie die Kraft gehabt hätte, wäre sie zum Friedhof gegangen, um in der Nähe ihrer toten Eltern Antworten zu finden und sich weiteren Fragen zu stellen. Sie hatte das Grab nach der Beerdigung der Mutter nicht wieder aufgesucht, während Insa jeden Tag mit einem Besuch begann oder beendete.
Die Beerdigung selbst hatte Aletta hinter sich gebracht, als läge eine andere Person in dem Sarg, als hätten die Blumen, die sie ins offene Grab warf, nichts mit ihrer Mutter zu tun und als fiele die Erde auf einen Sarg, der so hohl klang, weil er leer war. Sie hatte alle Blicke gespürt, als sie mit Insa ans offene Grab getreten war, und nach der Hand ihrer Schwester gegriffen. Aber auch hier war sie ihr entzogen worden. Als sie dann endlich weinen konnte, hatte sie nicht nur um die Mutter geweint, sondern auch um die Liebe zu ihrer Schwester und um das Geheimnis, das ihre Mutter mit ins Grab genommen hatte.
Zum Glück war Ludwig da gewesen. Wie immer hatte er sich zwischen sie und den Rest der Welt gestellt, hatte ihr seine Hand gereicht, sein Taschentuch, seine Fürsorge, seinen Trost. Und natürlich hatte er auch dafür gesorgt, dass die Neugier der ungewöhnlich großen Trauergemeinde nicht überhandnahm und Insas Trauer um die Mutter nicht entwürdigt wurde, indem die Anwesenheit der berühmten Tochter wichtiger wurde als der Abschied von Witta Lornsen.
Die Kirche hatte die vielen Trauergäste, denen eingefallen war, dass sie etwas mit Alettas Mutter verband, nicht fassen können, und als sie von der Orgel aufgefordert worden waren, das Lied zu singen, das zu jeder Beerdigung auf Sylt gehörte, war zunächst außer der Stimme des Pfarrers niemand zu hören gewesen. Alle Blicke hatten sich auf Aletta gerichtet, die jedoch den Mund nicht öffnete und sogar die Lippen zusammenpresste. Trotzdem hatte Insa die Fäuste in ihrem Schoß geballt und war unmerklich ein Stück von Aletta abgerückt, als wäre ihre Schwester schuld daran, dass die Sylter ein außerplanmäßiges Konzert erwarteten.
Erst als die Gemeinde sich damit abfinden musste, dass Alettas Stimme nicht zu hören sein würde, hatte sich ein schleppender Gesang entwickelt, aber jede Stimme war bereit gewesen, auf der Stelle zu verstummen, sobald Aletta sich doch entschließen sollte einzustimmen. Ludwig hatte sich schließlich mit dem ihm unbekannten Lied abgemüht, während Insa steif vor Trauer,Bitterkeit und Widerwille dagesessen hatte. Aletta war klar gewesen, dass Insa ihr vorhalten würde, den Abschied von ihrer Mutter untergraben zu haben mit ihrer Popularität und ihrem überflüssigen Erscheinen auf Sylt. Und tatsächlich war der Leichenschmaus erst eine Stunde vorüber gewesen, als Insa ihr diese Vorhaltungen ins Gesicht geschleudert hatte. »Du gehörst hier nicht mehr her!«
Aletta fragte sich, was geworden wäre, wenn Ludwig sich nicht schlichtend zwischen die beiden Schwestern gestellt hätte. Ludwig, der Mann, ohne den sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen konnte ...
Der Abend war noch hell, als sie sich schlafen legte. Entsprechend früh wachte sie am
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