Sturm über Sylt
Kleidern mit schmalen Taillen und weiten, langen Röcken, mit großen Hüten auf den hochgetürmten Frisuren flanierten die Straße entlang, Herren in dunklen Anzügen und Hemden mit hohen Kragen, die leichte Strohhüte trugen. Auf dem rechten Arm lag die Hand ihrer Begleiterin, in der linken Hand tanzte ein Spazierstock mit einem kostbaren Knauf. Sie alle zeigten keine Eile, reagierten entweder nicht auf die Zeitungsjungen, die ihnen die Extrablätter unter die Nase hielten, oder kauften sie ihnen ab, obwohl sie längst über die Extranachrichten informiert sein mussten.
Aletta stellte fest, dass es nun endgültig vorbei war, ihr fieberhaftes Suchen nach einem Indiz für den Fortbestand des Friedens. Vorgestern noch hätte die unbefangene Reaktion dieser Sommerfrischler ihr die Hoffnung zurückgegeben, dass Ludwig zu schwarz gesehen hatte, dass kein Land einen Krieg wollte und jeder Machthaber froh sein musste, auf eine Kriegserklärung verzichten zu dürfen. Nun aber war der Krieg unausweichlich geworden.Doch anscheinend gab es immer noch Menschen, die glaubten, er ginge sie nichts an, die sich ihrer privilegierten Stellung so sicher waren, dass nicht einmal ein Krieg daran etwas ändern sollte.
Doch dass das Herrschaftsgefüge bereits in Auflösung begriffen war, erkannte Aletta, als der Kutscher des »Miramar« sie ohne große Vorrede ansprach. Noch nie hatte er das Wort an sie gerichtet, weil es ihm selbstverständlich verboten worden war, den Gästen lästig zu fallen. Aber nun sagte er, als hätte er seinesgleichen vor sich: »Ist wohl besser, nach Hause zu gehen. Ich komme aus Bremen. Und Sie?«
Das war eine unverschämte Frage, eine plumpe Bemerkung, eine ungeheure Anmaßung, die Direktor Busse sofort mit Kündigung bestrafen würde, wenn er davon wüsste. Aber das war jemandem, der nach Hause zurückwollte, natürlich egal. Und jemandem, der die Auflösung seiner Lebensumstände auf sich zukommen sah, erst recht.
Deshalb antwortete Aletta, als wäre sie von einem Gast des »Miramar« gefragt worden: »Ich bin auf Sylt zu Hause.«
Dieser Satz klang noch in ihr nach, als die Kutsche in die Stephanstraße einbog. Sie lag sehr ruhig da. Keine Feriengäste waren zu sehen, die zum Strand aufbrachen, keine Botenjungen, die die Sommerfrischler mit Auslieferungen versorgten, keine Hausfrauen hinter den Zäunen der Vorgärten, keine Dienstboten, die in den offenen Fenstern die Kissen aufschüttelten. Gespannte, erwartungsvolle Ruhe lag über der Straße. Die Frau, die vorüberging, blickte nicht einmal auf, obwohl eine Kutsche des »Miramar« sicherlich nicht häufig in der Stephanstraße hielt und erst recht keine berühmte Sängerin hier abstieg. Aber sie schien weder das eine noch das andere wahrzunehmen, ließ den Blick gesenkt und ging an Aletta vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Das dürfte eine der wenigen sein, die vom Krieg profitieren«, meinte der Kutscher, der Alettas Tasche zur Tür trug. Anscheinendhatte er nun vollkommen vergessen, wie er sich als Bediensteter eines vornehmen Hotels zu benehmen hatte.
Aletta sah ihn erstaunt an und fragte, obwohl sie seine despektierliche Bemerkung natürlich hätte ignorieren müssen: »Was meinen Sie damit?«
Der Kutscher setzte ihre Tasche vor der Haustür ab. »Welche Frau will in Kriegszeiten schon ein Kind zur Welt bringen?« Ohne diesen rätselhaften Satz näher zu erläutern, verabschiedete er sich so diensteifrig, wie er es gelernt hatte, ergänzte aber: »Sie waren meine letzte Fahrt. Ich packe gleich meine Sachen und sehe zu, dass ich nach Munkmarsch komme. Noch sollen die Dampfer regelmäßig fahren.« Er ging bis zum Zaun des Vorgartens zurück und drehte sich dort noch einmal um. »Viel Glück, junge Frau! Wir können es alle gebrauchen.«
Aletta starrte ihm nach, als könnte sie nicht glauben, was ihr zu Ohren gekommen war. Dann griff sie zur Türklinke, erleichtert, dass ihr Stolz sie gehindert hatte, den plumpen Gruß des Kutschers zu erwidern.
V.
Am 1. August 1914 erklärte Deutschland erst Russland den Krieg, am 3. August dann Frankreich. Am 4. August folgte Großbritanniens Kriegserklärung an Deutschland, vier Tage später erklärte Großbritannien auch Österreich-Ungarn den Krieg. Abends um halb acht läuteten die Glocken sämtlicher Kirchen auf Sylt. Der Weltkrieg wurde eingeläutet.
Aletta und Insa saßen am Küchentisch, die gefalteten Hände auf der Tischplatte, ließen die Köpfe hängen und lauschten auf das Geläut,
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