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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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Jorit gehörte demnach nicht zu denen, die an die Front mussten! Die Erleichterung, die sie empfand, konnte sie sich zunächst nicht erklären und hielt sie selbst für unangemessen. Aber dann begriff sie, dass es unerträglich gewesen wäre, von ihm Abschied zu nehmen und ihm nachzuwinken, während sie selbst sich vor zehn Jahren heimlich davongemacht und ihm nicht die Möglichkeit zu einem solchen Abschied gegeben hatte.
    Um sie herum war noch Schluchzen zu hören, eine ältere Frau weinte laut um ihren Sohn, ein paar kleine Kinder klammerten sich schreiend an die Beine ihrer Mütter. Dann aber, als der Qualm der Lokomotive verrauchte, als aus den kreisrund herausgestoßenen Dampfwolken allmählich faserige graue Rauchschleier wurden, die dann im Nu vor dem Blau des Himmels zergingen, kehrte sich das Leben bereits wieder dem Alltag zu. Trauer, Sorge und Verzicht gingen mit, als die Frauen sich umdrehtenund zu ihrer Arbeit zurückkehrten, aber der Alltag musste eben weitergehen, die Arbeit getan, die Kinder versorgt, das Vieh gefüttert, die Ernte eingefahren werden. Ein paar Kinder hüpften den Müttern voran, schüttelten die Fäuste und drohten mit Stöcken, die sie unterwegs von einem Baum abgebrochen hatten.
    »Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit.«
    Im Nu gewann auch eine berühmte Sängerin wieder an Bedeutung, die für Stunden und sogar Tage eine von ihnen, eine wie jede andere gewesen war. Es gab Frauen, die wiesen einander tuschelnd auf Aletta hin, andere sprachen sie an, um sich die schwere Stunde des Abschieds von einer kleinen Sensation erleichtern zu lassen, die Aletta noch immer für sie war. Seit sie unter ihnen herumging wie früher, seit sie in ihr Elternhaus gezogen war, das Haar in einem schlichten Knoten und die dunklen Kleider ihrer Mutter trug, noch mehr. Manche spürten vielleicht auch, dass Alettas Popularität zum Gradmesser werden konnte: Der Krieg würde noch nicht in das Leben der Sylter eingedrungen sein, solange Aletta als berühmte Sängerin und nicht nur als jüngste Tochter der Lornsens unter ihnen war. Erst wenn ihr Ruhm keine Bedeutung mehr hatte, würde der Krieg auch Sylt im Griff haben.
    Diese Frage beschäftigte sie alle: Würde der Feind auf Sylt einmarschieren? Würde er von Westen oder Norden kommen, sie von See überfallen? Und konnte die Insellage sie dann schützen, wie der Inselkommandant behauptete?
    Als sie den Heimweg antraten, fragte Aletta sich, wer Ludwig nachgewinkt haben mochte. Hoffentlich hatte seine Schwester ihn begleitet. Der Gedanke, dass kein vertrauter Mensch bei ihm gewesen war, als er mit diesem ungewissen Ziel aufbrach, setzte ihr zu.
    Um sich von dieser Sorge abzulenken, fragte sie Insa: »Hast du Jorits Frau gekannt?«
    Insa nickte. »Ich war sogar zur Hochzeit eingeladen. Eine hübsche, fröhliche junge Frau.« Sie verlangsamte ihren Schritt und sah Aletta von der Seite an. »Hast du Jorit getroffen?«
    »Eher als dich«, entgegnete Aletta. »Er ist zu meinem Konzert gekommen. Und er war später in meiner Garderobe.«
    »Dann hast du bei ihm erreicht, was du wolltest?« Insas Stimme klang so bitter und war gleichzeitig so verletzend, dass das schlechte Gewissen in Aletta hochschoss und die kurze Genugtuung, die sie sich verschafft hatte, in sich zusammenfiel. »Hat er eingesehen, dass du Sängerin werden musstest? Hat er bestätigt, dass du für dieses Ziel alle anderen belügen und betrügen durftest?«
    Aletta fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Kurz vorher, am Bahnhof, hatten sie wie zwei Schwestern nebeneinandergestanden und den Soldaten nachgewinkt, jetzt waren sie wieder Fremde geworden, Rivalinnen, vielleicht sogar Feindinnen. Sie antwortete nicht, um Insa mit ihrer schwankenden Stimme nicht zu zeigen, wie sehr sie von ihren Worten getroffen wurde.
    Insa fuhr fort, als habe sie keinen Widerspruch erwartet: »Tomma Lauritzen wurde schon bald nach der Hochzeit schwanger. Es war eine schreckliche Sturmnacht, als ihre Wehen einsetzten. Die Hebamme hatte Mühe, zu den Lauritzens zu kommen. Als sie endlich eintraf, war Tomma schon nicht mehr bei Bewusstsein. Ein Schlag hatte sie getroffen. Das Kind war gestorben, und Tomma ist seitdem ein Pflegefall! Schrecklich! Zunächst war Jorit froh, dass Tomma überlebt hatte, aber dann hat er gemerkt, wie schwer es für ihn war, seine Frau allein zu versorgen. Er schaffte es nicht. Deswegen haben seine Schwiegereltern ihre Tochter zu sich geholt. In ihrem Haus in Hamburg

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