Sturm über Sylt
fühlte, dass sie lächelte, weil ihr plötzlich einfiel, was es mit diesem besonderen Besuch auf sich haben könnte. Ihre Mutter hatte nicht gern darüber geredet, weil im Hause Lornsen über etwas so Intimes wie eine Geburt geschwiegen wurde. Aber Aletta hatte so oft gefragt, warum sie in Hamburg geboren worden war, während Insa das Licht der Welt auf Sylt erblickt hatte, dass ihre Mutter es ihr schließlich erzählt hatte. Sie war mit Aletta schwanger gewesen, als sie mit Insa einen Besuch bei den Verwandten machte. Dann war es dort zu Komplikationen gekommen, und der Arzt hatte davon abgeraten, die beschwerliche Rückreise nach Sylt anzutreten. So war die Mutter bis zur Geburt in Hamburg geblieben und ihre Tochter natürlich auch. Kein Wunder, dass Insa sich gelangweilt hatte und unglücklich gewesen war!
Aletta strich so lange über ihren Magen, bis sie die Übelkeit weggestrichen hatte. Aber als sie zur Speichertür gehuscht war, sie leise geöffnet, vorsichtig hinter sich geschlossen hatte und nun vor der Stiege stand, die zum Speicher hinaufführte, kam der Ekel schon zurück. Dieser dumpfe Geruch von Staub undlängst Vergessenem machte ihr zu schaffen. Trotzdem zog es sie die Treppe hinauf. Die Gelegenheit war günstig, solange Insa damit beschäftigt war, den beiden Soldaten das Abendessen zu richten.
Wieder öffnete sie die Truhe, starrte lange hinein und überlegte, wie sie in das Durcheinander von zerbröselten, angefressenen und zerfransten Seiten Ordnung bringen sollte, und griff schließlich nach einem Blatt, das sich an den Rand der Truhe geschmiegt hatte und einigermaßen unversehrt aussah. Aber als sie es zur Hand nahm, machte es schon Anstalten zu zerfallen. Vorsichtig hielt sie es in den gewölbten Handflächen, versuchte, es so wenig wie möglich zu berühren oder zu bewegen und zu entziffern, was die Zeit, die Mäuse und das bleichende Sonnenlicht, das durch die Ritzen des Korbgeflechts gefallen war, zurückgelassen hatten.
Es ist geschafft! Zum Glück! Was bin ich froh und erleichtert! Alles ist gutgegangen, wenn es auch schwer war. Geert wird uns bald holen. Auf Sylt werden sie alle staunen, wo doch jeder dachte, ich würde nach Insa kein weiteres Kind mehr bekommen können. Aber nun werden wir mit zwei Töchtern zurückkehren. Schade nur, dass Insa die Kleine nicht lieben kann. Sie weist sie zurück, will sie nicht auf den Arm nehmen und nichts mit dem Baby zu tun haben. Hoffentlich ändert sich das bald. Die beiden müssen sich doch liebhaben! Und Insa hatte immer bedauert, dass sie ein Einzelkind war. Ich habe sie wieder dabei erwischt, wie sie einen Brief schrieb. Leider kann ich nicht sicher sein, dass ich ihr jedes Mal rechtzeitig auf die Spur gekommen bin. Wenn sie einen Brief nach Sylt abgeschickt hat, weiß ich nicht, was er dort bewirken mag.
Die Übelkeit überfiel Aletta nun derart plötzlich und so gewaltig, dass sie es nicht schaffte, die Treppe hinunterzulaufen und sich in ihrem Zimmer über ihre Waschschüssel zu beugen. Sie erbrach sich heftig in einen alten Emailletopf mit brüchigem Boden,der zum Kochen nicht mehr taugte, aber ihrem Vater zum Wegwerfen anscheinend noch zu kostbar erschienen war. Als sie den Topf vorsichtig die Stiege hinabtrug, tropfte ihr das Erbrochene auf die Füße. Das erzeugte weiteren Ekel in ihr, der wiederum so heftig in ihr hochschoss, dass er wie stinkendes Wasser aus ihr herausbrach.
Sie klinkte die Speichertür mit dem Ellbogen auf, was nicht ohne Geräusch zu bewerkstelligen war. Als sie an ihrer Zimmertür ankam, hörte sie prompt Insas Stimme aus dem Flur im Erdgeschoss. »Warst du auf dem Dachboden, Aletta?«
»Nein! Wie kommst du darauf?«
»Ich dachte, ich hätte die Tür gehört.«
Aletta verzichtete auf eine weitere Antwort, ging in ihr Zimmer, schloss eilig die Tür und stellte den Topf auf dem Boden ab. Schwer atmend lehnte sie sich gegen die geschlossene Tür und lauschte auf Insas Schritte auf der Treppe.
»Wie riecht es hier?«, hörte sie ihre Schwester fragen.
Im Nu kippte Aletta den Topf in ihrem Waschgeschirr aus und schob ihn unters Bett. Schon öffnete sich die Tür, und Insa erschien auf der Schwelle.
»Mir ist schlecht geworden«, sagte Aletta und zeigte auf den Boden, wo der löchrige Topf einiges zurückgelassen hatte. »Ich hole schnell einen Putzlappen.«
Aber Insa hielt sie zurück, als sie mit der Waschschüssel an ihr vorbeiwollte. »Was ist los mit dir? Bist du etwa schwanger?«
Aletta antwortete
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