Sturm über Sylt
sattmachte. Der jüngere Leutnant dagegen war ein schlanker, gutaussehender Mann, erst Anfang dreißig und von einnehmender Freundlichkeit. Als er Aletta sah, griff er sich entzückt ans Herz und verkündete, er habe bereits davon gehört, dass die berühmte Sängerin Aletta Lornsen in ihre Heimat zurückgekehrt sei. »Aber dass ich das Glück habe, in ihrem Hause zu wohnen ...« Dem Leutnant fehlten angesichts dieser unglaublichen Erkenntnis die Worte. Dann begann er von ihrem Auftritt im »Barbier von Sevilla« zu schwärmen, den er in München erlebt hatte. »Ich habe die Rosina nie besser gehört!« Und als Santuzza in »Cavalleria rusticana« habe er sie auch gesehen, und als Elvira in Bellinis »Puritani« habe sie ihn geradezu verzaubert.
An diesem Punkt der Schwärmerei wurde er von Hauptmann Hütten in die Realität des Soldatenlebens zurückgeholt. Der schnitt dem jungen Leutnant das Wort ab und verlangte, man solle ihm sein Quartier zeigen, statt ihn zu nötigen, diesem schwärmerischen Unsinn weiter zuzuhören. Dass er damit der Schwester der berühmten Sängerin aus der Seele sprach, beflügelte ihn sogar, die Kunst an sich in Frage zu stellen und künstlerische Berufe allesamt für überflüssig zu halten.
Während der Hauptmann das Zimmer, das Insa ihm zuwies, brummend bezog und einerseits unzufrieden wirkte, aber andererseits nichts beanstandete, blickte Robert Fritz sich in seinem neuen Domizil wie ein Gast um, der höflich sein wollte, egal, was er zu sehen bekommen würde. »Sehr nett! Vielen Dank!« Er wäre wohl mit allem zufrieden gewesen, solange es sich unter einem Dach mit Aletta Lornsen befand.
Während die beiden sich einrichteten, machte Insa sich daran,das Abendessen für sie vorzubereiten. »Du kannst den Tee kochen«, sagte sie zu ihrer Schwester.
Aber Aletta griff sich an den Magen. »Mir ist nicht gut. Ich möchte mich ein bisschen hinlegen.«
Tatsächlich fühlte sie sich seit Tagen schlecht, hatte mit Übelkeit zu kämpfen und mit einer bleiernen Müdigkeit, die sie sich nicht erklären konnte. Aber dass sie sich an diesem Abend zurückzog, hatte auch einen anderen Grund. Insa würde beschäftigt sein, Aletta konnte sich also wieder einmal auf den Speicher schleichen, um in der Truhe nach Spuren zu suchen, die sie zu dem Geheimnis ihrer Mutter führten. Auf keinen Fall wollte sie, dass Insa etwas von ihrer Suche mitbekam. Schon am Sterbebett ihrer Mutter hatte sie Fragen unterbunden und später auf alles, was Aletta wissen wollte, nur ärgerlich abgewinkt. Insa würde verhindern wollen, dass sie weiterforschte. Warum eigentlich? Weil sie ein Teil des Geheimnisses war?
Aletta dachte an eines der Blätter, das sich gelöst hatte, weil ein anderes, das an demselben Faden gehangen hatte, herausgetrennt worden war.
Die Zeit verstreicht quälend langsam. Die Wochen und Monate ziehen sich hin, wir haben beide Heimweh, Insa noch mehr als ich. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten. Insa weint viel, und ich weiß nicht, wie ich sie trösten soll. Gestern habe ich sie dabei ertappt, wie sie einen Brief schrieb. Aber ich habe verhindert, dass er abgeschickt wurde. Womöglich verrät sie noch etwas. Sie ist ja so unglücklich fern ihrer Insel. Und sie kann nicht einsehen, dass ich nur ihr Bestes will.
Aletta hatte das Blatt sinken lassen und nachgedacht. Die Familie war häufig aufs Festland gereist, nach Hamburg, um die Verwandten der Mutter zu besuchen, die dort lebten. Witta hatte ihre Eltern und ihre Geschwister in der Nähe von Hamburg, auf einem kleinen Bauernhof, zurückgelassen, als sie Geert Lornsennach Sylt gefolgt war. Aber Aletta konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals wochen- oder sogar monatelang dort zu Besuch gewesen waren. Wenn Insa bei den Verwandten so unglücklich gewesen war, warum war die Mutter nicht wieder mit ihr nach Hause gefahren?
Die Übelkeit zog wieder durch ihren Leib, sie blieb stehen, hielt sich am Treppengeländer fest und atmete tief ein und aus. Dann ging sie in ihr Zimmer und holte das Blatt wieder hervor, das sie zu dem Tagebuch unter die Matratze gesteckt hatte. Sie drehte und wendete es, suchte nach einem Datum, fand aber auch hier keines, genauso wenig wie auf den anderen Blättern des Tagebuchs. Nirgendwo hatte ihre Mutter in ihren Aufzeichnungen ein Datum vermerkt. Womöglich war Aletta selbst noch gar nicht auf der Welt gewesen, als ihre Mutter mit Insa diesen langen Besuch auf dem Festland gemacht hatte?
Aletta
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