Sturm über Sylt
ist mit ihr befreundet. Aber sie ist die einzige gute Näherin weit und breit.«
Aletta hatte Insa nachdenklich zugehört. »Glaubst du wirklich, dass es viele Frauen gibt, die im Krieg kein Kind zur Welt bringen wollen?«
Insa sah sie so erstaunt an, als verstünde sie Alettas Frage nicht. »Würdest du ein Kind haben wollen, wenn dein Mann an der Front ist und du nicht weißt, ob er zurückkommt? Oder wenn du gerade erfahren hast, dass er gefallen ist? Auf Sylt haben in den letzten Jahren viele vom Fremdenverkehr gelebt. Die stehen nun alle ohne Arbeit und ohne Einkünfte da. Wenn der Krieg länger dauert als erwartet, wird es noch viel Not auf der Insel geben. Wer will in solchen Zeiten ein Kind?«
Auf Sylt begann die Mobilmachung an der Keitumer Kirche. Einige Hundert Männer waren ihrem Gestellungsbefehl gefolgt, einige junge Burschen hatten sich freiwillig gemeldet, ein paar sogar das Notabitur gemacht, um so bald wie möglich dem Vaterland dienen zu können. Eine Mutter kam schreiend zum Bahnhof gelaufen, die ihren Sohn zurückhalten wollte, der sich freiwillig gemeldet hatte, ohne ihr etwas zu verraten. Erst im letzten Augenblick hatte sie seinen Brief gefunden und klammerte sich nun an ihren Jungen, als könnte sie ihn noch von seinem Plan abbringen. Nur knapp die Hälfte der Sylter Soldaten wurdean die Kampffronten gebracht, der andere Teil würde in der Inselwache Dienst tun, die die Ufer beschützen sollte. Die verzweifelte Mutter musste ihren Sohn in den Zug steigen lassen, einer ungewissen Zukunft entgegen, der der Achtzehnjährige mit leuchtenden Augen entgegenblickte.
Ganz Sylt war auf den Beinen, als diejenigen, die an die Front mussten, am Ostbahnhof auf die Inselbahn verladen und Richtung Munkmarsch geschickt wurden, wo ein Schiff auf sie wartete. Das brachte gleichzeitig einige Sylter mit maritimen Kenntnissen zurück auf die Insel, die in den letzten Jahren aufs Festland gezogen waren. Sie wurden nun in die Heimat geschickt, um Teil der Inselwache zu werden, deren Aufgabe es war, für eine lückenlose Überwachung der gut vierzig Kilometer langen West- und Nordküste zu sorgen.
Pfarrer Frerich war wieder besonders gut informiert gewesen. »Die englischen Seestreitkräfte sind gefährlich. Sie erfordern höchste militärische Konzentration. Helgoland soll den Rückhalt für die Torpedoboot-Flottille bilden und für die kleinen Kreuzer, die die Linie Wangerooge–Helgoland–Eider kontrollieren. Die Küsten müssen geschützt werden. Deswegen ist ein Teil des Landheeres für die Sicherung der Inseln Borkum, Pellworm und Sylt eingeteilt. Die Inselwachen werden durch Blinktrupps untereinander in Kontakt stehen. Die anderen Leuchtfeuer werden dafür gelöscht.«
Auch Insa und Aletta waren zum Bahnhof gegangen, um sich von denen zu verabschieden, die sie kannten. Es war ein sonniger Tag mit einem fast wolkenlosen Himmel. Die grauen Felduniformen schienen nicht zu diesem Tag zu passen. Und während so manches sich unter der Sonne heller, heiterer und versöhnlicher ausnahm, blieb der triste Abmarsch kläglich und gedämpft, obwohl einige Soldaten lachend aus dem Fenster der Inselbahn winkten, weil sie sich auf das Abenteuer Krieg freuten. Die meisten jedoch blickten ernst zurück, eingeschüchtert von der Trauer und den Tränen ihrer Angehörigen, die sie zurückließen, gelähmtvon der Ungewissheit, der sie entgegenfuhren. Als der Zug sich in Bewegung setzte, versuchte jeder von ihnen, die Gesichter der Menschen, die sie liebten, so lange wie möglich im Blick zu haben, ihre winkenden Hände von anderen zu unterscheiden und die Augen an einer Haarsträhne, einem Band, einem flatternden Rock festzuhalten. Als der Abstand zu groß geworden war, stellte Aletta sich vor, dass ihr Blick über ihre Insel ging, die viele von ihnen noch nie verlassen hatten, über die flachen Häuser hinweg Richtung Meer, über die Heideflächen und die Dünen. Und es würde wohl keinen unter ihnen geben, in dem sich nicht die Sorge regte, ob er all das jemals wiedersehen würde.
Insa und Aletta standen unter den Frauen, die von ihren Männern, Söhnen und Brüdern Abschied genommen hatten. Die beiden hatten Nachbarssöhnen hinterhergewinkt, früheren Spielkameraden oder Mitschülern, vertrauten Handwerkern, Lebensmittelhändlern oder Fischern. Aletta hatte heimlich nach Jorit Ausschau gehalten, ihn aber nirgendwo gesehen. Erlöst ließ sie die Hand sinken, als die Inselbahn um die erste Kurve verschwand. Gott sei Dank!
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