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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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ersten Gefallenen ging ihr nicht aus dem Kopf, während sie sich auf den Heimweg machte. Sie hatte Jap nur flüchtig gekannt, seine Mutter, die sich in vielen Häusern ihr Geld als Wäscherin verdiente, jedoch umso besser. Konnten den Schmerz einer Mutter wirklich nur die nachempfinden, die selber ein Kind geboren hatten? Sie legte die Hände auf ihren Bauch und versuchte, von dort ein Gefühl aufsteigen zu lassen. Aber es gelang ihr nicht. Ein Kind, von dem der Vater nichts wusste! Eine Schwangerschaft, die von ihrer Schwester nicht beachtet wurde! Wann begann so ein Leben in das der Mutter, in ihre Liebe und ihren Schmerz einzugreifen? Wenn sie das Kind jetzt verlor, würde sie traurig um dieses Wesen sein oder nur darüber, dass sie etwas von Ludwig verlor, was unwiederbringlich war? Ginge es schon um diesen kleinen Menschen oder nur um die Folgen, die seine Geburt für sie gehabt hätte? Vielleicht wäre nur wichtig, dass damit die Antworten auf unausgesprochene Fragen gegeben wurden: Wie setze ich meine Karriere fort, wenn ich Mutter bin? Wie wird Ludwig reagieren, der nie Vater werden wollte? Wie bringe ich das Kind bis zum Ende des Krieges durch, wenn meine Schwester weiterhin nur widerwillig reagiert und das Kind am Ende genauso ablehnen wird, wie sie mich zeitlebens abgelehnt hat?
    Sie spürte, dass ihr jemand folgte, drehte sich aber erst um, als sie Jorits Stimme hörte: »Aletta! Warte!«
    Sie blieb stehen und sah ihm entgegen. »Hast du keinen Dienst?«
    Jorit schüttelte den Kopf. »Erst am späten Abend wieder. Nachts ist der Inselschutz besonders wichtig.«
    »Ich bin froh, dass du nicht an die Front musstest.«
    »Wirklich?« Seine Augen leuchteten auf.
    Aletta bereute sofort, was sie gesagt hatte. Jorit kam oft, wenner Feierabend hatte, zu Besuch, und von Mal zu Mal glaubte sie weniger, dass er aus reiner Freundschaft kam, wie er immer wieder versicherte. Seine Frau war weit weg, Ludwig war weit weg, die Verhältnisse auf Sylt hatten sich auf den Kopf gestellt ... Jorit schien der Ansicht zu sein, dass sich auch die Regeln des Anstands damit aufgelöst hatten.
    Gut sah er aus in seiner grauen Uniform mit den dunklen Tressen und den blinkenden Knöpfen, schneidig, selbstbewusst und siegessicher. So, wie er als Hotelier gewirkt hatte, erschien er ihr auch jetzt: ein Mann, der wusste, was er wollte. »Die Inselkommandantur macht Ernst. Die Wachposten und Patrouillen haben nachts in den Dünen und auf einigen Häusern Lichter beobachtet.«
    »Entenjäger! Die locken mit ihren Blendlaternen die Wildenten an. Das machen sie seit eh und je.«
    »Die Kommandantur ist aber der Ansicht, dass Landesverrat dahintersteckt.«
    Aletta lachte auf. »Was für ein Unsinn! Hier kommandieren anscheinend Leute, die nichts von Sylt wissen.«
    Jorit blieb ernst. »Damit muss Schluss sein. Landesverrat ist kein Kavaliersdelikt. Wenn der Kommandant glaubt, dass da jemand die Posten irreführen will, dann findet er sich am nächsten Tag vor Gericht wieder. Und du weißt, was im Krieg auf Landesverrat steht.«
    Aletta versuchte, noch einmal zu lachen, aber es gelang ihr nicht. »Die Wildenten sollen irregeführt werden, nicht die Wachposten.«
    Jorit nickte. »Ich weiß das. Aber der Kommandant glaubt es nicht. Wir sind angewiesen, auf solche Lichter zu schießen, wenn sie zu sehen sind. Die Lichter der Entenjäger irritieren die Inselwache.«
    Das Haus Lornsen kam in Sicht, Alettas Schritte wurden langsamer. »Ihr sollt auf eure Landsleute schießen? Auf Leute, die Hunger haben und deshalb Jagd auf Wildenten machen?«
    »Die Sylter leiden noch keinen Hunger.«
    »Die Hotel- und Pensionsbesitzer nicht! Die haben noch Vorräte. Aber die anderen? Vergiss nicht, dass die Fischerei lahmgelegt wurde. Außerdem werden Wildenten auf Sylt gejagt, solange ich denken kann.«
    »Es trifft immer die Falschen, das weißt du doch. Sönke ist früher schon auf Wildentenjagd gegangen.«
    »Warum sprichst du gerade von ihm?«
    Jorits Gesicht wurde ernst und sorgenvoll. »Er hatte gehofft, zur Inselwache eingeteilt zu werden, aber er wurde an die Front geschickt.«
    Aletta runzelte die Stirn. »Ich habe ihn auf dem Bahnhof nicht gesehen, als die Frontsoldaten verabschiedet wurden.«
    »Das ist es ja ... Er hat sich nicht gemeldet. Er ist seitdem verschwunden.«
    »Desertiert?« Die Angst um Sönke nahm Aletta den Atem. Das Gewicht des kleinen Körpers lag für Augenblicke wieder in ihren Armen, sie spürte die weiche Haut des verlassenen

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