Sturm über Sylt
So klagte Weike häufig darüber, dass ihr Mann so selten in ihr Bett kam und immer nur dann, wenn sie ihn lange und ausgiebig bedrängt hatte. »Kannst du das verstehen?«, fragte sie Aletta, die nur mit großen, ungläubigen Augen dasaß und nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. Aber Weike erwartete keine Antwort, sondern fuhr schon fort: »Bin ich etwa so hässlich, dass mein Mann mich nicht begehrt? Oder liegt es daran, dass ich älter bin als er?«
Daraufhin schüttelte Aletta immerhin energisch den Kopf. Denn Weike war zwar keine Schönheit, aber hässlich war sie auf keinen Fall. Und sie liebte ihren Mann. Was die Liebe mit dem Alter zu tun haben sollte, konnte Aletta sich nicht vorstellen, und warum Boncke die Liebe seiner Frau nicht mit Begehrlichkeit belohnte, dazu wusste sie auch nichts zu sagen. Das erfuhr sie erst später. In der Nacht, in der Kai Stobart sein Leben ließ. Undin dieser Nacht wurde ihr auch endlich klargemacht, dass Dirk Stobart keine Macht mehr über sie hatte. Er konnte sie nicht zwingen, für ihn zu stehlen. Das war von da an vorbei!
Sie hatte sich früh zurückgezogen und behauptet, sie sei sehr müde und wolle zeitig schlafen gehen. Insa hatte ihr nur gleichgültig zugenickt, sie ging immer erst zu Bett, wenn alle Gäste sich in ihre Zimmer verabschiedet hatten. Diesmal hatte sie womöglich sogar die Absicht, auf die Rückkehr der beiden Soldaten zu warten, die einen Besuch im Nachbarhaus machten. Dort war ein weiterer Hauptmann einquartiert worden, mit dem Augustin Hütten bestens bekannt war. Mit Robert Fritz und einer Flasche Schnaps war er losgezogen, um das Wiedersehen zu feiern. Aletta hatte den beiden hinterhergesehen, bis sie von der Nachbarin eingelassen worden waren. Sah so der Krieg aus? Wenn ein Soldat den anderen besuchte, um einen Abend mit Schnaps zu genießen? Hoffentlich ging es auch Ludwig so gut wie den Soldaten der Inselwache. Aber sie wusste, dass sie sich etwas vormachte, wenn sie daran glaubte. Ludwig war an der Front! Dort, wo gekämpft und gestorben wurde, dort, wo jeder froh war, wenn er überlebte, egal wie.
Sie schrieb ihm jeden Tag, und einmal pro Woche schickte sie ihre Briefe ab. Ob sie Ludwig erreichten, wusste sie nicht, er hatte ihr bisher kein einziges Mal geantwortet. Der Brief, den er geschrieben hatte, bevor er zur serbischen Front aufbrach, war der einzige gewesen. Aletta war sicher, dass er ihr weitere Briefe schrieb, wenn er die Gelegenheit dazu hatte.
Allmählich wuchs die Unruhe in ihr. Über das Schicksal der österreichischen Soldaten erfuhr sie auf Sylt nichts, der Brief, den sie Ludwigs Schwester geschrieben hatte, war ebenfalls unbeantwortet geblieben. Und niemand konnte ihr sagen, ob die Post überhaupt über die Grenze gebracht wurde.
Während sie es sich in dem kleinen Gartenhaus bequem machte, in dem des Nachts die Liegestühle und Sonnenschirme untergebrachtund die Gartengeräte aufbewahrt wurden, machte sie sich Mut, Ludwig von ihrer Schwangerschaft zu berichten. Noch ahnte er nicht, dass er Vater wurde, und sie gestand sich nun ein, dass sie Angst hatte, es ihm zu offenbaren. Es gab Stunden des Tages, in denen sie sich einredete, ihn bei seiner Rückkehr mit der freudigen Nachricht überraschen zu wollen, aber in Stunden wie dieser, in denen sie allein war, noch dazu in Stille und Dunkelheit, wagte sie sich zu fragen, was diese Nachricht für Ludwig bedeuten mochte. Würde sie ihm helfen und Kraft geben, all das Schreckliche zu überstehen, was er erleben musste? Oder würde er sich dann noch mehr Sorgen um die Zukunft machen, die schon ohne Kinder ungewiss genug war? Ludwig konnte nicht wissen, wie ruhig es auf Sylt war, dass die Inselwache noch keinen Angriff abzuwehren hatte, dass ein Kind hier im Frieden geboren wurde, wenn es auch nur ein scheinbarer Frieden war.
Sie würde ihn gerne stärken. Aber machte es ihn stärker, wenn er erfuhr, dass das Leben nach dem Krieg nicht so weitergehen würde wie bisher? So, wie er es sich sehnlich wünschte? Also würde sie ihm morgen wohl wieder nur schreiben, dass sie jeden Tag sang, um ihre Fähigkeiten zu erhalten, und immer dann, wenn sie ihm nah sein wollte. Das würde ihn beruhigen und ihm die Zuversicht geben, dass dieser Krieg nichts geändert hatte, wenn er vorbei war.
Aletta seufzte auf, strich den Rock des derben Kleides glatt und lehnte sich zurück. Als Kind hatte sie in diesem Häuschen gelegentlich gespielt, hatte ihre Puppe dort versorgt und es ihr
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