Sturm über Sylt
Puppenhaus genannt. Ihr Vater hatte ihr schließlich sogar einen alten, ramponierten Sessel hineingestellt, auf dem sie gerne gesessen und ihr Reich betrachtet hatte, mit ihrer Puppe auf dem Schoß. Ob es ihrem Vater schwergefallen war, sich um seine Jüngste zu kümmern? Oder hatte er irgendwann den Mann vergessen, der ihr leiblicher Vater war?
Aletta sah sich um. Wo mochte ihre Puppe geblieben sein? Auf dem Speicher? Sie würde die nächste Gelegenheit nutzen,um sie dort zu suchen. Vielleicht würde sie im nächsten Frühling ein Mädchen zur Welt bringen, dann konnte diese Puppe das erste Spielzeug ihrer Tochter sein. Auf jeden Fall konnte die Puppe als Ausrede herhalten, wenn Insa sie jemals dabei ertappen sollte, wie sie auf dem Speicher nach den Aufzeichnungen ihrer Mutter suchte. Und dass sie das tun würde, war gewiss. Sie musste herausfinden, wer ihr Vater war und was er ihrer Mutter bedeutet hatte.
St. Nicolai schlug zehn, Jorit musste jeden Augenblick kommen. Aletta spürte, dass sie lächelte, obwohl sie alles andere als frohgemut war. Nun waren sie beide erwachsene Menschen, Jorit ein erfolgreicher Hotelbesitzer und sie selbst eine gefeierte Sängerin, doch noch immer trafen sie sich heimlich in einer unwürdigen Umgebung. Damals musste es sein, damit sie sich ungestört küssen und ihre ersten schüchternen Erfahrungen in der Sexualität machen konnten, und heute, weil es sich nicht schickte, dass ein verheirateter Mann, noch dazu der Ehemann einer schwerkranken Frau, mit einer Sängerin, der schon von Berufs wegen Flatterhaftigkeit unterstellt wurde, in der Dunkelheit spazieren ging. Wenn sie mit Jorit allein sein wollte, gab es nur diese Möglichkeit. Dass sie ein wenig Parfüm benutzt und sich die Wangen gepudert hatte, beschämte sie mit einem Mal. Aber es war schön gewesen, diese kleinen Schätze, die sie sorgsam vor Insa verbarg, hervorzuholen. Ebenso wie die seidene Unterwäsche, von der Insa genauso wenig wissen durfte.
Auf der Rückseite des Nachbarhauses rührte sich etwas, eine Tür wurde geöffnet, leise Stimmen waren zu vernehmen. Eine gehörte Hauptmann Hütten, die andere war Aletta fremd. Der Mann, der mit Augustin Hütten sprach, war vermutlich der einquartierte Soldat der Nachbarn. Die beiden stellten sich an den Zaun, statt das Holzhäuschen zu benutzen, das in jedem Garten der Stephanstraße stand. Aletta drehte sich erschrocken um, als ihr klarwurde, was die beiden vorhatten. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass das Plätschern bis in das Gartenhäuschendrang. Die Fenster bestanden aus dünnem Glas, die Tür war nicht mehr fest zu schließen, sondern hinterließ einen fingerbreiten Spalt, durch den Kälte, Wind und Geräusche drangen.
Die fremde Stimme fragte: »Ich habe heute die Frau gesehen, bei der du wohnst.«
Augustin Hütten antwortete: »Du meinst die berühmte Sängerin? Ich habe vorher nie was von ihr gehört. Aber Robert ist ganz verrückt vor Bewunderung.«
»Die meine ich nicht. Die andere, die Ältere.«
»Das ist ihre Schwester.«
»Die habe ich schon mal irgendwo gesehen. Ich überlege die ganze Zeit, wo.«
»Ich denke, du warst noch nie auf Sylt?«
»War ich auch nicht. Ich muss sie also woanders gesehen haben. Und das ist verdammt lang her. Aber sie scheint sich nicht sehr verändert zu haben. Es kommt mir vor, als hätte sie mir damals schon gefallen.«
Das Plätschern hatte ein Ende, es entstand ein kurzer Moment der Stille, in dem die Männer ihre Kleidung richteten. Dann sagte die fremde Stimme: »Aber ich komme noch dahinter!«
Als die Schritte sich entfernten, blickte Aletta ihnen nach. Leicht schwankend gingen sie auf die Tür des Nachbarhauses zu.
Sie schüttelte den Kopf. Insa sollte außerhalb von Sylt gesehen worden sein? Da täuschte sich der Soldat aber gründlich. Insa hatte ihr ganzes Leben auf der Insel verbracht. Nur um nach Hamburg zu Mutters Familie zu fahren, hatte sie Sylt gelegentlich verlassen. Aber das war lange her. Alettas Großeltern lebten nicht mehr, und ihre Tante, die verwitwete Schwester ihrer Mutter, war in den Schwarzwald zu ihrer Tochter gezogen, die dort verheiratet war.
Aletta musste noch eine Viertelstunde warten, bis sie endlich das Rascheln der Hecke und Jorits fast lautlosen Schritte auf dem Gras hörte. So wie damals hatte er sich über das Gelände der Post geschlichen, um von hinten das Grundstück der Lornsens zu betreten.Die Hecke war zwar höher und dichter geworden, aber Jorit hatte es dennoch
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