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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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Schuld wog von Mal zu Mal leichter, und das, obwohl sie nicht zur Beichte ging, damit ihr vergeben wurde. Pfarrer Frerich mahnte seine Gemeinde jeden Sonntag, sich in der Beichte von der drückenden Schuld zu befreien, aber Aletta stellte fest, dass die Gewohnheit etwas Ähnliches vollbrachte. Zwar war sie nie ohne Angst, aber die Angst war von Schuld zu Schuld leichter zu ertragen.
    Nichts deutete darauf hin, dass diesmal etwas anders sein würde. Aletta hatte Rosi Nickels um einen Teil ihres Gewinns gebracht, als sie für ihre Mutter eingekauft hatte und im Stuben-Laden ein paar Augenblick allein gewesen war. Aber Rosi Nickels verdiente mit ihrem Laden nicht viel, Aletta wusste, dass Dirknicht zufrieden sein und ihr drohen würde, aller Welt zu erzählen, dass sie eine Diebin war. So blieb ihr nichts anderes übrig: Sie musste in die Handtasche der Frau greifen, die ihr vertraute und der sie viel zu verdanken hatte. Vera Etzold merkte vermutlich nicht einmal, dass ihr ein Geldschein fehlte. Dennoch litt Aletta schwer unter der Gewissheit, dass sie ihre verkaufte Seele nicht wieder zurückverlangen konnte.
    Sie stieg über die Hecke von St. Niels, wie sie es schon unzählige Male vorher gemacht hatte, und ging um die Kirche herum zur Tür der Sakristei. Dort wartete Dirk schon auf sie, breitbeinig, das Grinsen im Gesicht, mit dem er seine Überlegenheit unter Beweis stellen wollte, mit der ekelhaften Sicherheit, an die sie in diesem Augenblick selbst noch glaubte.
    Sie zählte Dirk das Geld in die Hand und fragte sich, wie jedes Mal, wenn es so weit war, warum er es brauchte, warum er es nicht von seinem Vater bekam, der eine gutgehende Zimmerei besaß. Und wie immer spürte sie, dass sie auf diesem Friedhof nicht mit Dirk allein war. Manchmal war es nur ein Knirschen im Kies, dann wieder ein unterdrücktes Räuspern, manchmal schien sogar ein fremder Atem nahe zu sein. All das war auch dann zu spüren, wenn der Sturm ging. Zu sehen war jedoch nie etwas, auch wenn die Nächte heller waren.
    »Brav«, flüsterte Dirk, der auf dem Friedhof niemals laut sprach. »Nächste Woche bist du wieder hier. Zur selben Zeit.«
    »Nächste Woche schon?«, fragte sie erschrocken zurück. »Wie soll das gehen?«
    Dirks selbstsicheres Lächeln vertiefte sich. »Dir wird schon was einfallen. Einem unbescholtenen jungen Mädchen wie dir traut ja zum Glück niemand was Schlechtes zu. Du gehst doch im ›Miramar‹ ein und aus. Da gibt es jede Menge reicher Leute, die das Geld locker in der Tasche sitzen haben.«
    Wie ein geprügelter Hund war sie zur Hecke zurückgeschlichen, hatte sich vom Sturm dorthin treiben lassen, spürte ihn in ihrem Rücken, als wollte er ihr helfen, zu verschwinden,war in Gedanken schon dort, wo sie das nächste Mal in eine fremde Geldbörse greifen würde, geduckt unter einer neuen Beschaffenheit ihrer Angst. Dirks Unersättlichkeit konnte ihr Verderben werden, seine Gier am Ende das Maß vollmachen, und sie würde es dann sein, die ausbaden musste, was er angerichtet hatte. Sein einflussreicher Vater würde dafür sorgen, dass der Ruf seines Sohnes keinen Schaden nahm. Und wenn sie gestehen musste, dass der allererste Diebstahl, der Raub der Kollekte aus der geschlossenen Sakristei, ganz allein auf ihr Konto ging, brauchte sie gar nicht den Versuch zu machen, auf Dirks Teil der Schuld hinzuweisen. Was sollte der Sohn aus gutem Hause nachts auf dem Friedhof verloren haben? Diese Frage würde Aletta nicht beantworten können. Sie hatte sie sich ja selbst oft genug vergeblich gestellt.
    Sie erschrak zu Tode, als sie den Schrei hörte: »Habe ich dich endlich, du schwule Sau!«
    Aletta wollte gerade ein Bein über die niedrige Hecke heben. Wie erstarrt blieb sie stehen, unfähig, die Hecke zu überwinden und die Flucht zu ergreifen. Schwule Sau? Was hatte das zu bedeuten? Keuchen drang zu ihr herüber, Angriffslust, Verteidigung, blinde Wut, unbesonnene Schläge, verzweifelte Verteidigung. Schwul? Sie kannte dieses Wort. Weike Broders hatte es erwähnt und gelacht, als sie merkte, dass Aletta nicht wusste, wovon sie sprach. Die Schreie, die sie hörte, wurden hilfloser, spitzer, als schluchzte jemand, der eigentlich brüllen wollte. Schwul! Weike hatte von einem Freund ihres Mannes erzählt, der verdächtigt wurde, schwul zu sein, nicht Frauen zu lieben, wie es sein sollte, sondern Männer, wie es nicht sein durfte. Von Weike wusste sie auch, dass so etwas unter Strafe stand. Schwul! In Alettas Kopf riss eine

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