Sturm ueber Thedra
Vielleicht hätte er einen der Wärter so weit beeinflussen können, ihn in einer finsteren Nacht aus der Sträflingskolonie herauszuschmuggeln, aber daran hatte er überhaupt kein Interesse. Noch nie war es ihm so gut gegangen wie hier. Er war der erklärte Liebling der Schwerverbrecher des ganzen Landes, wurde von ihnen mit Geschenken überhäuft und brauchte nicht das Geringste dafür zu tun.
Doch dünn ist die Kette, die die Götter dem Menschen gaben, seinen Hochmut zu bändigen, und groß ist die Macht der Langeweile. - Lange hatte Szin in Wohlstand gelebt, als ihm auffiel, dass er vieles hatte, jedoch nicht alles.
Szin beschloß, alles zu wollen und besann sich auf alte Methoden. Hatte er sonst auch alles, was er sich nur wünschen konnte, so fehlte es ihm doch an Zerstreuung. Da kamen ihm die Reuigen und Unschuldigen gerade recht. Immer häufiger schikanierte er einzelne Gefangene aus diesen Gruppen planmäßig, um sie sich gefügig zu machen. - Und so kam es, dass man ihn im Alter von siebzehn Jahren, zum zweiten Mal in seinem Leben, über die Leiche eines widerspenstigen Opfers seiner Launen gebeugt fand.
Szin war des Todes!
Nach dramilischem Recht waren die Insassen der Straflager alleiniges Eigentum der jeweiligen Herren. Eine Beschädigung eines Gefangenen durch einen anderen zog auf jeden Fall schwerste Strafe nach sich. Unter normalen Bedingungen hätte Szin sein Leben verwirkt gehabt.
Aber Szin hatte Freunde. Mit der Zeit hatte er seine Gabe so weit vervollkommnen können, dass ein Gutteil der Wärter und Gefangenen auf seiner Seite war, was immer er auch tat. Von diesen Leuten, den wirklichen Schwerverbrechern und brutalen Wärtern, wurde er mit der gleichen Inbrunst geliebt und beschützt, wie die Gruppe der Reuigen, Unschuldigen und Gütigen ihn verabscheute.
Bestand die eine Gruppe darauf, dass Szin sofort hingerichtet würde, wie es jedem anderen auch geschehen wäre, verteidigte die andere Gruppe ihn mit der gleichen Vehemenz. - Es drohte eine Revolte im Lager, egal, wie die Entscheidung ausfallen würde. Schließlich hatte sich der Oberaufseher dazu entschlossen, Adiv eb Aser, den Hofmarschall und Vertrauten des Fürsten von Thonar, um Rat zu fragen.
Adiv eb Aser hatte großes Interesse an dem Stummen gezeigt, der in der Lage war, ein ganzes Gefangenenlager in Aufruhr zu versetzen. Er hatte dem Oberaufseher befohlen, Szin zu einem Verhör in den Palast zu bringen.
Kühn war Szin vor den Hofmarschall Sed eb Reas getreten, und obwohl er gefesselt war und nicht ein einziges Wort sprechen konnte, legte er ein so hochmütiges Gebaren an den Tag, dass Adiv des einseitigen Gesprächs schnell überdrüssig wurde. Er gab den Wachen den Befehl, Szin abzuführen und den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.
Doch da erlebte Adiv eb Aser etwas, was er nie für möglich gehalten hätte: Die Wachen, die Szin hielten, rauhe Burschen, die sonst immer Vergnügen am Leid ihrer Gefangenen gefunden hatten, weigerten sich. - Mehr noch: - Sie legten die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter und nahmen eine drohende Haltung gegen ihn ein! - Welch ungeheure Macht mußte dieser stumme Mörder über andere Menschen haben, dass selbst die Schergen des Fürsten ihr Leben für ihn riskierten.
Interessiert hatte Adiv eb Aser verfolgt, wie Szin eb Szin sich mit ausdruckslosem Gesicht leicht vor ihm verbeugte. Eine der Wachen hatte den Dolch gezogen und die Fesseln des Gefangenen durchtrennt.
Ganz allein war Adiv eb Aser mit diesem unheimlichen Sträfling und den beiden renitenten Wachen in seiner Amtsstube.
Lächelnd nahm Szin dem Mann, der ihn befreit hatte, den schweren, bronzenen Langdolch ab und präsentierte ihn Adiv eb Aser auf seinen ausgestreckten Handflächen.
Der Hofmarschall verstand.
"Du weihst mir deine Waffe?"
Szin nickte leicht.
"Meine Feinde sind auch deine Feinde, meinst du?"
Wieder bestätigte Szin mit einem fast unmerklichen Kopfnicken.
"Dann töte diese Männer!" Adiv eb Aser zeigte auf die Wachen. Schneller als sein Auge folgen konnte, war Szin herumgewirbelt, hatte den beiden vollständig überraschten Wachen mit einem einzigen Streich die Kehlen durchschnitten und stand schon wieder mit gleichmütigem Gesicht vor ihm.
Der ganzen Situation haftete etwas Gespenstisches an, aber Adiv eb Aser war nicht umsonst Marschall des Hofes von Thonar. Dieser Szin eb Szin schien brauchbar. - Jeder Mensch ist brauchbar, wenn man ihn tun läßt, was er gern tut! - "Es bereitet dir Freude, zu töten!",
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