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Sturm ueber Thedra

Sturm ueber Thedra

Titel: Sturm ueber Thedra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Stuhr
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wäre er begehbar gewesen, so blieben doch die Ungeheuer, und hätten die nicht dort gelauert, so wäre der Weg sowieso zu weit gewesen, um für irgendeine Unternehmung lohnend zu sein. Auf estadorianischer Seite war die Welt eine Tagesreise hinter der Bergstadt Stein zu Ende. Jenseits dieser Linie wohnte und lebte kein Mensch mehr. Konnte kein Mensch mehr existieren. - Mit einer Ausnahme!

    Vor Hunderten von Jahren war ein alter Mann in das Vorgebirge gezogen und hatte die Bergstadt Stein, die damals ein Dorf aus drei Hütten gewesen war, hinter sich zurückgelassen.
    Der Wanderer war aus Thedra, der jungen Kolonie am äußersten nordwestlichen Ende des Landes, gekommen, aber er hatte nicht sein ganzes Leben dort verbracht. Als junger Mann hatte er den ganzen Kontinent bereist, beherrschte die Sprachen der Menschen aller Länder und hatte sich auf seinen Wanderungen immer sehr für die Religionen der Völker interessiert. So hatte der Wanderer auf seinen Reisen die Waldgeister Mocams kennengelernt, die die Menschen aus den Baumkronen heraus beobachteten und mit unsichtbaren Pfeilen beschossen, wenn sie sich ungehörig verhielten. Auch den Steppengott der Völker von Mittelwelt fand er interessant, der alljährlich gewaltige Opfer verlangte und den Menschen das Wasser nahm, wenn er unzufrieden war. - Jedes Volk hatte eine Religion, die genau auf jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten war, und in allen Kulturen wurden die guten Menschen belohnt, während den Unfolgsamen die Strafe der Götter sicher war.
    So war es auch bei den Ofisa- und Harmuged-Kulten. - Bei beiden kam aber noch etwas Besonderes hinzu: Die Harmuged betrachteten das hiesige Leben, genau wie die Ofisa, nur als eine Art Prüfung für das wirkliche Leben nach dem Tode. Das unterschied sie grundlegend von allen anderen Glaubensgemeinschaften, die, bei aller Demut vor den Göttern, immer darauf bedacht waren, das Leben vor dem Tode ausgiebig zu genießen.
    Ofisa und Harmuged predigten die Nichtigkeit des Seins und den Verzicht auf hiesige Güter, zugunsten der Priesterschaft, um des Gewinns der Seligkeit willen. Hinter diesen Glaubenssätzen hatte der Wanderer aber einen anderen, wesentlich härteren Kern in den Dogmen beider Kongregationen ausgemacht, denn da ging es um die Erlösung der Welt von der unreinen Fleischlichkeit und zwar in einem sehr konkreten Sinne: Die Priester beider Gemeinschaften redeten Feuer und Schwert, Erdbeben und Wasserflut, fliegende Türme und brennende Vögel vom Himmel herab, ja flehten sie förmlich herbei, damit die Menschheit tot und geläutert in das Reich der ewigen Seligkeit eingehe. - Und dabei glichen sich die Worte der feindlichen Priester so sehr, dass kaum einer der Gläubigen es bemerkt hätte, wären die Reden vertauscht worden.
    Es steckte vielleicht etwas Konkretes hinter der Sache, und der Wanderer hatte schon in jungen Jahren beschlossen, dem Geheimnis der Weltvernichtungs-Religionen, wie er sie für sich nannte, auf die Spur zu kommen. Aus den Dogmen der beiden Bruderschaften hatte er sich sein ganz eigenes Bild gemacht: Die Glaubensbekenntnisse der Ofisa- und der Harmuged-Leute gingen auf seltsame Weise miteinander auf, obwohl ihre Ursprünge nachweislich auf gänzlich verschiedene Quellen zurückzuführen waren. Es gab mehr Berührungspunkte zwischen den beiden Orden, als es hätte geben dürfen, was die Priester aber nicht wahrhaben wollten. Sie waren, ganz im Gegenteil, sehr darauf bedacht, die Unterschiede der beiden Bekenntnisse kraß herauszustellen, um vor dem Volk als die Alleininhaber aller Weisheit zu gelten.
    Für den Wanderer war es allerdings gleichgültig gewesen, ob es eine Wand oder ein Tisch war, der die Welt zeigte, ob es fliegende Türme oder brennende Vögel waren, die die Erlösung brachten und ob der Erlöser Ofisa oder Harmuged hieß. - Für ihn war allein wesentlich, dass es einen Ort geben konnte, an dem unbekanntes Wissen und eine unbekannte Macht darauf warteten, entdeckt zu werden. Brachte man nun, wie er es tat, alle Informationen aus beiden Glaubensgemeinschaften vorurteilsfrei zusammen, deuteten verschiedene, versteckte Anzeichen darauf hin, dass das Zentrum dieser Macht im Zentralmassiv des Großen Gebirges lag.
    So war der Wanderer denn als alter Mann aufgebrochen, um das letzte und tiefste Geheimnis zu ergründen, das der Kontinent für ihn bereithielt. Es mußte eine Gewalt, eine Macht, eine Energie in den Bergen geben, deren furchtbare Kraft ausreichte, um alle Menschen

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