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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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konnte, dass es schon viele Unvorsichtige das Leben gekostet hatte.
    Der Weg führte steil bergauf. Gegen Mittag erreichte Gerit eine Abzweigung, die ihn östlich am Berg entlangführen würde. Der eigentliche Weg knickte nach Westen ab, wo er im Hauptpass münden würde. Gerit blieb stehen. Er hatte gehofft, auf Spuren zu stoßen, die ihm seine Entscheidung erleichtern würden, aber außer den Abdrücken einiger Ziegenhufe war nichts zu sehen. Die Nachtschatten mussten einen anderen Weg gewählt haben.
    Aber welchen?, fragte er sich. Man benötigte weniger Soldaten, um den kleinen Pass abzuriegeln, aber wenn das Wetter umschlug, waren sie dort oben gefangen. Den Hauptpass zu kontrollieren, war schwieriger und aufwendiger, und Korvellan riskierte, seine Soldaten zu verlieren, sollte Rickard auftauchen und ihre Stellungen überrennen. Wenn der General ahnte, dass Gerit sein Geheimnis kannte, würde er den Pass abriegeln und die Verluste in Kauf nehmen, aber nur dann.
    Ich glaube nicht, dass er es weiß, dachte Gerit. Er hätte mich längst getötet, wenn es so wäre.
    Er wandte sich nach Westen, dem Hauptpass zu. Die Berge stiegen rechts von ihm grau in den Himmel, das Tal breitete sich links aus. Die Luft war so klar, dass er sogar Bochat in der Ferne erkennen konnte. Solange er auf diesem Weg blieb, würde eine Nachtschatten-Patrouille ihn nicht überraschen.
    Den ganzen Tag über ging er bergauf. Seine Waden schmerzten. Er tötete eine Krähe mit einem Stein und aß ihr Fleisch roh. Es war die einzige Rast, die er einlegte.
    Gerit verließ den Weg am späten Nachmittag, kurz bevor er in der Passstraße endete. Er fand einen Pfad, der weiter den Berg hinaufführte. Zwischen Felsen und trockenem Gras kletterte er ihn entlang. Es gab Ziegenspuren im Staub und Kot. An manchen Stellen waren Steine in den Weg geschlagen worden, um ihn zu festigen. Anscheinend wurde er von Hirten oder Schmugglern genutzt. Einmal hörte er weit entfernt das Meckern einer Ziege, konnte jedoch niemanden entdecken. Die Straße lag verlassen unter ihm. Manchmal knickte der Pfad ab, kehrte aber stets zu ihr zurück. Er sah keine Reiter, keine Wanderer, keine Nachtschatten.
    Gerit hatte gehofft, Braekor erreichen zu können, bevor es dunkel wurde, aber als die Nacht kam, hatte er gerade mal die Hälfte des Aufstiegs geschafft. Nur einer der Zwillingsmonde stand am Himmel, der andere hing als winzige Sichel über dem Tal. Zweimal stolperte Gerit in der Dunkelheit, dann gab er auf und suchte sich eine Nische zwischen zwei Felsen. Seine Beine zitterten vor Anstrengung. Er hatte Durst. Die Kälte der sternklaren Nacht brannte in seinem Gesicht und an seinen Füßen. So gut es ging rollte er sich in seine Jacke ein, aber schlafen konnte er nicht. Jedes Mal, wenn ihm die Augen zufielen, ließ ein Geräusch oder ein unerwarteter Gedanke ihn wieder hochschrecken.
    Schließlich legte er sich mit angezogenen Knien auf den Rücken und betrachtete die Sterne. Norhan hatte ihm die Konstellationen gezeigt, und es beschämte ihn, dass er die meisten vergessen hatte. Er erkannte nur die beiden feindlichen Schlachtrösser, den Fischer mit seinem Netz und den Himmelsaltar der Vergangenen. Er dachte an den Abend, an dem er Korvellan den Altar gezeigt hatte. »Wir kennen dieses Sternbild unter einem anderen Namen«, hatte der General geantwortet. »Wir nennen es ›Der Henker und der Richtblock‹.« Damals in der Festung hatte Gerit die Figuren nicht gesehen, doch hier auf dem Berg erkannte er sie so klar, als habe sie jemand in den Himmel gemeißelt.
    Kurz vor der Dämmerung zog sich der Himmel zu. Henker, Fischer und Schlachtrösser verschwanden hinter grauen Wolken, und mit dem ersten Licht begann es zu regnen. Gerit stellte sich unter einen Felsvorsprung und leckte warmes Regenwasser von den Blättern eines Strauchs. Dann zog er sich die Jacke über den Kopf und kletterte weiter. Seine Fußsohlen schlitterten über die nassen Steine, seine Zehen krallten sich in den Lehm. Wasser und Schlamm zogen seine Kleidung nach unten. Mit einer Hand hielt er seine Hose fest, um sie nicht zu verlieren.
    Das Licht blieb grau. Es schien, als gelänge es dem Tag nicht, die Welt der Nacht zu entreißen. Gerit fiel es schwer zu schätzen, wie lange er bereits unterwegs war, einige Stunden vielleicht oder eine Kerzenlänge. Als er die Rauchsäule sah, die sich jenseits der Felsen mit den Wolken verband, blieb er stehen und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er wusste jetzt,

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