Sturm
»Komm.«
Sie ignorierte seine Geste und stand auf. Der Rock klebte an ihren Beinen, ihre nackten Füße waren braun von Schlamm.
»Ihr wisst, wer ich bin«, sagte sie. »Eines Tages werdet ihr das bereuen.«
Sie erwartete beinahe, dass einer von ihnen lachen würde – wahrscheinlich Fyramei –, aber sie alle schwiegen, während sie mit Jonan zwischen den mannsgroßen Blättern der Bäume verschwand.
Eine Weile kämpften sie sich wortlos durch das Unterholz. Ana stolperte über Schlingpflanzen und Wurzeln, die wie Fallen aus dem Boden ragten. Ein paarmal glaubte sie die Gaukler zu hören, aber jedes Mal, wenn sie sich nach ihnen umdrehte, sah sie nur das Grün des Urwalds. Sie konnten nicht allzu weit entfernt sein, schließlich hofften sie ebenso wie Jonan und Ana, eine Straße im Norden zu entdecken.
»Warum hast du das gesagt?«, fragte Jonan nach einiger Zeit. »Warum hast du gesagt, sie würden das noch bereuen?«
Sie bog einige Äste zur Seite. Es war eine dumme Bemerkung gewesen, das war ihr längst klar geworden. »Weil man so keine Fürstentochter behandelt«, sagte sie trotzdem. »Sie waren unverschämt.«
»Ich verstehe.« Jonan ging weiter, versuchte so gut wie möglich, ihr einen Weg zu bahnen.
Sie blieb stehen. »Du bist nicht einverstanden mit dem, was ich gesagt habe?«
»Das steht mir nicht zu.« Er sagte so etwas immer, bevor er ihr widersprach.
»Aber?«, fragte sie.
»Eines Tages, wenn es den Göttern gefällt, wirst du große Macht erlangen.« Er drehte sich um und sah sie an. Im Dämmerlicht verschmolz sein Gesicht mit den Schatten. »Menschen werden dich nach deinem Wort beurteilen. Du musst einer Drohung Taten folgen lassen, sonst wird dich niemand ernst nehmen. Du wirst dich daran erinnern, was du zu diesen Gauklern gesagt hast, und du wirst nicht wissen, ob sie nicht in den Dorfschänken von einem kleinen Mädchen erzählen, das haltlose Drohungen ausgesprochen hat. Das kannst du ihnen nicht erlauben. Also wirst du sie jagen und hinrichten müssen, jeden einzelnen.«
Sie lachte. Es klang laut und unecht. »Ich habe noch nicht einmal ein Paar Schuhe, und du redest von Macht? Sollte ich jemals mein Erbe antreten, werde ich sicher nicht an ein paar armselige Gaukler in irgendeinem Sumpfland denken.«
Sie lachte erneut, auch wenn sie in ihren Gedanken wusste, dass sie die Worte und das Gesicht eines jeden einzelnen Gauklers ihr Leben lang nicht vergessen würde.
»Wie du meinst«, sagte Jonan.
Kapitel 24
Die Verstrickungen, Allianzen und Intrigen zwischen den Provinzen sollten den Reisenden nicht interessieren. Nicht wenige, die mit dieser Regel gebrochen haben, konnten im Kerker oder auf dem Richtblock über ihren Sinn nachdenken.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Die ersten Tage nach seinem Treppensturz hatte er verschlafen. Sie hatten ihm etwas gegen die Kopfschmerzen gegeben und die Fenster seines Zimmers mit Stoffbahnen verhängt, weil das Licht in seinen Augen stach. An diesem Morgen, nach fast sechs Tagen, hatte Craymorus zum ersten Mal darum gebeten, sie wieder abzunehmen. Er fühlte sich besser.
Oso war in seine Dienste zurückgekehrt, aber obwohl Craymorus ihn mehrmals nach Mellie gefragt hatte, gab er ihm keine Antwort. Der Sklave wirkte eingeschüchtert. Außer ihm und dem Arzt, der sich als Leibarzt des Fürsten vorgestellt hatte, war niemand zu Besuch gekommen. Craymorus fühlte sich, als hätte man ihn von der Welt getrennt. Vielleicht war das so gewollt.
Er drehte den Kopf, als die Tür geöffnet wurde. »Oso …«, begann er, senkte dann jedoch sofort den Kopf. »Eure Hoheit.«
Cascyr, der König ohne Land, winkte ab. »Ihr müsst Euch nicht erheben. Man hat Uns mitgeteilt, Ihr hättet Euch ausreichend gut erholt, um einer Unterhaltung folgen zu können.«
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Die vier Gardisten, die ihn begleiteten, verteilten sich im Zimmer.
»Ja, Herr.«
Der König griff nach einem Stück Käse, drehte es zwischen Daumen und Zeigefinger und legte es wieder auf den Teller. »Man hat Uns auch mitgeteilt, Ihr hättet Glück gehabt. Nichts ist gebrochen, zumindest nicht gebrochener, als es vorher war.«
Er wischte sich die Hand an der Bettdecke ab.
»Ja, Herr. Ich werde in Zukunft wohl mit dem Wein vorsichtiger umgehen.«
»Das solltet Ihr.« Cascyr verschränkte die Arme vor der Brust. Die weiße Seidenrobe glänzte in der Morgensonne.
»Eine seltsame
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