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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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zeigte, dass sie ihn nicht zum Feind haben wollte. Doch anstatt sie wissen zu lassen, dass auch er ihre Feindschaft nicht wünschte, hatte er sie weiter unter Druck gesetzt.
    Ich hätte die Insel der Meister nie verlassen sollen, dachte er, ich bin nicht geschaffen für solche Spiele.

 
    Kapitel 25
     
    Der Reisende, der Somerstorm (nach meist kurzer Zeit) verlässt, tut dies in der Gewissheit, dass es kaum einen trostloseren Ort in den vier Königreichen geben mag. Diese Erkenntnis erfüllt seine Schritte mit Kraft und seinen Geist mit Freude.
    Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
     
     
    Am Morgen des vierten Tages erwachte Gerit in einer Höhle, die er am Vorabend entdeckt hatte. Mehrere Leichen lagen mit dem Gesicht nach unten darin, so wie es in Somerstorm Brauch war. Knochen waren überall verstreut. Es stank, aber nicht so schlimm wie in der Gerberei. Die meisten Leichen waren alt. Gerit hatte gezögert, sich dann aber doch entschieden, die Nacht in der Höhle zu verbringen. Tote konnten ihm nichts tun, und er hoffte, dass ihr Geruch einen Nachtschatten täuschen würde, wenn er zufällig in der Nähe vorbeikam. Das Pferd hatte er freigelassen. In den Bergen, die vor ihm lagen, konnte er es jenseits der Wege nicht mehr reiten.
    Gerit hatte sich in eine Ecke der Höhle gehockt, in der er die Steinhaufen und Decken nicht sehen konnte, und versucht, trotz der Kälte zu schlafen. Ein Feuer anzuzünden wagte er nicht. Es waren zu viele Patrouillen in der Nähe der Pässe unterwegs. Wahrscheinlich hatte man sie längst über seine Flucht informiert. Die Nachtschatten liefen schneller und ausdauernder als Pferde, nahmen die Tiere nur mit, um sich in menschlicher Form auf ihrem Rücken auszuruhen. Er nahm an, dass sie bereits die Pässe besetzt hatten und dort auf ihn warteten.
    Ich hätte Korvellan nichts von dem zweiten Pass erzählen sollen, dachte er, während er in eine ungekochte Maka-Wurzel biss. Sie schmeckte bitter und war hart wie eine Nuss.
    Seine einzige Hoffnung lag darin, dass Korvellan nicht genug Soldaten hatte, um beide Pässe abzuriegeln. Er konnte es sich nicht leisten, seine kleine Armee aufzuteilen, nicht, wenn Rickard bereits so nahe war, wie es den Anschein hatte.
    Gerit stand auf und trank etwas von dem salzigen Wasser, das im hinteren Teil der Höhle von der Decke tropfte. Es löschte kaum den Durst, aber es vertrieb wenigstens den Geschmack der Maka-Wurzel von seiner Zunge.
    Einen Moment lang blieb er stehen und lauschte den Wassertropfen, dann drehte er sich um. Es machte keinen Sinn, das Unvermeidliche noch länger aufzuschieben. Mit zusammengepressten Lippen ging er die Reihe der Leichen ab. Leere Augenhöhlen schienen ihn zu beobachten. Kleine Knochen knackten unter seinen nackten Füßen. Vor einem Toten, der wohl erst einige Wochen zuvor gestorben war, blieb er stehen. Im Sonnenlicht, das durch den Eingang drang, sah er den grauen Makastoff, der seinen Körper bedeckte. Haare wuchsen zwischen den Steinen.
    Gerit hockte sich vor den Toten. »Es tut mir leid«, sagte er und begann die Steine zu entfernen. Der Gestank wurde so stark, dass er zu würgen begann. Er dachte an Moksh, an Vrenn, an seine Eltern und den Nachtschatten, der vor der Festung verweste. Immer wieder schüttelte er den Kopf, aber die Gedanken hatten sich in seinen Geist gekrallt und ließen nicht los.
    Es dauerte nicht lange, dann lag die Leiche frei. Der Mann war etwas kleiner als Gerit und bärtig. Seine Haut war schwarz verfärbt, Insekten krochen darüber. Die Kleidung, die er trug, hatte ihn vermutlich sein halbes Leben lang begleitet, so oft war sie geflickt worden. Aber sie sah wärmer aus als Gerit eigene Kleidung, und vor allem roch sie nicht nach ihm.
    Dem Toten Jacke und Hose auszuziehen, war einfacher, als Gerit geglaubt hatte. Er schüttelte die Kleider, um die Insekten daraus zu vertreiben. Sie waren schwer und klamm. Als er sich umzog, bemerkte er, dass die Hose nicht ganz bis zu seinen Knöcheln reichte und die Jacke um seinen Körper schlotterte. Gestank hüllte ihn ein. Ihm war nicht mehr übel.
    Er steckte das Pergament in seine neue Hose und verneigte sich vor dem Toten. »Danke.«
    Die Morgensonne vertrieb schon bald die Feuchtigkeit aus Gerits Kleidung. Ein warmer Wind wehte in seinem Rücken, der Himmel war so blau, dass ein Blick hinein die Augen tränen ließ. Narrenwärme nannten die Somer dieses Wetter, weil es so schnell in Kälte umschlagen

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