Sturmauge
Rubinturm erhob sich im diesigen Morgenlicht drohend vor ihnen. Der gestufte Turm war mit roten Marmorsplittern besetzt und für das Licht der Sommerabende entworfen worden. Im Augenblick betonte er nur die Grimmigkeit der schwarzen Bergwand hinter sich.
»Hauptmann Fohl?«, sprach Natai den Kommandanten ihrer Wache an. »Wenn Ihr so gut wäret, vorzureiten.«
Der Hauptmann salutierte, doch der neue Sergeant hinter ihm wartete nicht auf den Befehl, sondern ritt sofort los, und zwei Einheiten ihrer Wachen reihten sich hinter seinem Pferd ein. Natai erheiterte sich ein wenig an Fohls Gesichtsausdruck, als er sah, dass seine Männer bereits in Bewegung waren. Und sein Adamsapfel hüpfte, als er sich einen Tadel verkniff.
Der Hauptmann hatte sich wie immer hübsch zurechtgemacht, aber heute wirkte er mit dem hellen Haar, das schlaff unter dem mit Gold besetzten Helm hervorhing und der bleichen Haut seines schwachen Gesichts etwas albern auf sie. Im Vergleich mit dem muskulösen Körper Sergeant Kayels sah er zierlich, beinahe armselig aus.
Es war ein beruhigendes Gefühl, Kayel an der Spitze ihrer nach Hale ziehenden Wachen zu sehen. Der Mann war der geborene Anführer und ziemlich einschüchternd. Natai wusste, dass Fohl sich schnell beleidigt fühlte und jeden anderen Sergeanten für diese Unverschämtheiten hätte auspeitschen lassen. Aber sogar die Arroganz des reinen Litse-Blutes konnte die Angst, die Fohl vor dem Mann hatte, nicht übertünchen.
Es war der Morgen des Gebetstages, der Tag des Hochamtes in den Tempeln, und der Herzog und die Herzogin hatten es sich schon vor langer Zeit zur Gewohnheit gemacht, an den Gottesdiensten in den Tempeln Ushulls und Tods teilzunehmen. Heute wären die Augen der ganzen Stadt auf sie gerichtet. Die Situation hatte sich noch nicht verbessert und Natai wusste, dass der Regen allein daran nichts ändern würde – nicht einmal die gnadenlosen Sturzbäche, die Byoras Straßen regelmäßig heimsuchten. Dennoch würde sie sich nicht vor ihrem Volk verstecken.
Über Hale hörte man, dass es ein Wespennest voll von Spannungen und Ereignissen sei. Dass eine Gruppe von Pönitenten zwei ihrer Gefolgsleute durchsucht hatte, verbesserte die Lage auch nicht. Die Männer waren natürlich bewaffnet gewesen, hatten sich aber zur Flucht entschlossen, statt sich wegen Unfrömmigkeit verhaften zu lassen. Eine Menschenmenge hatte sie zu Tode gesteinigt und jetzt wurden ihre Köpfe an einer Kreuzung ausgestellt, die Natai auf dem Weg zum Tempel des Tods passieren musste.
Auf ihren Befehl hin setzte sich der ganze Tross aus Adligen und Soldaten in Bewegung. Sergeant Kayel führte, die eine Hand am Schwert und den Kopf ständig mit aufmerksamem Blick in Bewegung, und legte einen raschen Schritt vor. Die Herzogin bemerkte bei den Menschen, an denen sie vorüberzogen, die unterschiedlichsten Reaktionen. Einige eilten ins Haus und verriegelten die Tür, andere reihten sich hinter den Soldaten ein. Natai
war einen Augenblick lang verärgert, weil sie die Gesichter der Folgenden nicht sehen konnte.
»Ganas«, rief sie ihren Ehemann, der sofort näher heranritt und sich zu ihr beugte, um sie besser hören zu können. Seine zeremonielle Uniform und sein Schwert ähnelten denen der Rubinturmwache – sie waren hübscher, aber darum nicht weniger nützlich.
»Denkst du, sie folgen uns, weil sie eine Schlacht sehen wollen, oder sind sie auf unserer Seite?«, fragte sie leise.
Er zuckte die Achseln, und sie hörte das zarte Klirren von Metall. Ein Großteil ihrer Untertanen betrachtete Ganas als dumm und willensschwach, weil sie und nicht er Byora regierte. Die Litse konnten sich nicht vorstellen, dass er einfach keinen Ehrgeiz besaß, ebenso wenig wie die dummen Weiber des Weißen Zirkels nicht begreifen konnten, dass sie sich nicht gegen die Unterdrückung eines Gatten wehrte. Sie beherrschte die Kunst des Regierens einfach besser als er und nur wenige Leute zollten ihm Respekt dafür, dass er das erkannt hatte und auch hinnahm. Nur wenige Männer schienen dazu stark genug zu sein. Also waren sie ein gutes Paar.
»Wenn sie vor die Wahl gestellt werden, werden sie sich für uns entscheiden«, sagte er im schmeichelnden Zungenschlag der Stadt. »Aber ich bezweifle, dass uns viele bis nach Hale folgen werden … zu gefährlich.«
Und tatsächlich blieb ihre Eskorte zurück und sah ihnen nervös nach, als sie das Tempelviertel erreichten. Drei Tore führten nach Hale. Zwei überblickten die
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