Sturmauge
Xeliath erhob sich hinter ihr und folgte der Hexe. Sie sah nun eher wie ein Weißauge aus, ihr Gesicht zeigte den gleichen wölfischen Ausdruck, die gleiche Entschlossenheit, wie sie Mihn bei Isak schon so oft gesehen hatte.
»Ich habe dir zwei Dienste erwiesen, Grabräuber, der dritte erlaubt mir, einen schrecklichen Preis einzufordern. Ich gab dir Stille, das ungesehene Dahingleiten einer Geistereule. Schutz gab ich dir, die Blätter der Eberesche und der Haselnuss auf deiner Haut.«
»Grabräuber«, flüsterte Xeliath neben der Hexe – und ihr Gesicht und ihre Augen strahlten vor wilder Freude.
»Du hast Weiteres von mir erbeten«, fuhr die Hexe fort und wurde dabei lauter. Mihn spürte die Worte überall um sich herum, sie ließen seine Knochen erbeben. »Und so habe ich Anspruch
auf deine Seele, kann mit ihr tun, was ich will. Diesen Anspruch trete ich ab, an das Grab, den wilden Wind, den gerufenen Sturm.«
Die Worte trafen Mihn wie Hammerschläge, jedes einzelne hallte wie das Pochen, mit dem Sargnägel eingeschlagen wurden, durch seinen Geist.
»Also gut«, flüsterte Mihn und spürte einen Abgrund in seinem Bauch aufklaffen. »Was du auch forderst, ich werde es tun. Was kein anderer tun kann, werde ich tun. Was von keinem anderen verlangt werden sollte, das werde ich tun.«
Die Hexe machte einen weiteren Schritt und war nun auf Armesreichweite an den sitzenden Mann herangekommen. Sie beugte sich vor, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr bleiches, stolzes Gesicht hatte nie fürchteinflößender gewirkt.
»Um durch die Dunkelheit geführt zu werden, braucht es mehr als Licht.« Sie griff hinter sich und umfasste Xeliaths Hand, während sie die andere um Mihns Kehle legte. Er wehrte sich nicht, als ihre Fingernägel blutig in seine Haut schnitten.
Die Hexe senkte die blutige Hand und legte sie auf Mihns Brust, die warm war. Plötzlich frischte der Wind auf und umwirbelte sie, peitschte durch die Bäume, weil Xeliath tief in den Energiestrom eintauchte, der ihr zur Verfügung stand.
»In der Dunkelheit erwartet dich mein Preis«, rief die Hexe. »In der Dunkelheit wirst du um Herrn und Herrin weinen, die so grausam sind wie das Eis in ihren Augen. In der Dunkelheit wirst du deinen Weg finden, aber auch eine Leine um deine Seele.«
Die Wärme ihrer Hand nahm zu, und Mihn keuchte auf, als ihm Blätter ins Gesicht schlugen und der Boden erbebte. In der Ferne hörte er den Sohn des Nartis aufstöhnen, aber seine Wahrnehumg war ganz auf die Flammenlanze gerichtet, die durch seine Brust zu schießen schien, und auf das gleißend helle Licht,
das seine Augen erfüllte. Er schrie, und der Laut mischte sich im Wind mit dem tierischen Kreischen der Hexe.
Das Land blieb hinter ihm zurück, um dann schlagartig zurückzukehren, als Xeliath den Magiestrom unterbrach. Mihn wurde rückwärts zu Boden geschleudert, wo er sich zusammenkrümmte und sein Jaulen sich in ein Wimmern verwandelte.
»Es ist vollbracht«, sagte Xeliath ohne Mitgefühl für den sich windenden Mann. »Und es hat Aufmerksamkeit erregt. Ich spüre, dass sich mit dem Wind jemand nähert.«
Mihn wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, der ein letztes Brennen durch seine Glieder jagte. Fernal kam aus den Schatten geeilt und half Mihn dabei, sich aufzusetzen. Er stöhnte, denn der Schmerz hallte noch nach. Als er saß, bemerkte er einmal mehr den Geruch verbrannten Fleisches, der von seiner Brust aufstieg. Er blickte aus regen- und tränenfeuchten Augen darauf hinab.
»Es ist vollbracht«, wiederholte Fernal.
Mihn runzelte die Stirn, weil sein Blick verschwommen war. Mit einem zitternden Finger suchte er seine Brust ab, bis er die richtige Stelle fand und mit einem heißen Stechen belohnt wurde, als er die rote Haut auf seinem Brustbein berührte. Auf seiner weißen Haut zeichnete sich ein Kreis mit einer Rune ab, die er gut kannte.
»Sind wir fertig?«, fragte er benommen und sah die Hexe an.
In ihren Augen zeigte sich Mitleid, und zwar ein so umfassendes, dass es Mihn genauso viel Angst machte wie der gnadenlose Ausdruck, den sie kurz zuvor getragen hatten. »Nein, Grabräuber, wir sind noch lange nicht fertig.«
»Verdammt.« Er sank in Fernals Arme und wurde ohnmächtig.
Im grauen Himmel wogte und donnerte es. Auf einem kleinen Hügel stand der Fuß eines ehemaligen Turms, der nur noch ein Stockwerk hatte und von einem Meer aus Ginster umgeben wurde.
Auf dem, was nun das Dach war, ruhte Xeliath in einem gewaltigen Thron und genoss
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